Wolfgang Herrndorfs „Sand“ hat den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Wie „Tschick“, das Erstlingswerk des Autors, hat der Roman das Zeug zum Kultbuch.

Leipzig - „Tschick“ war der Überraschungserfolg des vergangenen Winters. Fast ohne Werbung überzeugte er Buchhändler und Leser. Ganz knapp verpasste er im letzten März den Preis der Leipziger Buchmesse. Dabei ist es ein Jugendroman, eine Huckleberry-Finn-Story, verlegt in den wilden deutschen Osten, romantisch, farbig, suggestiv. Schon wird das Buch in Schulen durchgenommen. Es erreicht auch Leser, die sonst oder bis jetzt keine sind.

 

Wolfgang Herrndorf, der Autor, gelernter Maler, war Mitglied der „Titanic“-Satiretruppe und gehört in den Umkreis der „Zentralen Intelligenz-Agentur“ von Kathrin Passig und Sascha Lobo. Kein Establishment-Autor also, sondern ein Berliner Szenetyp, der seit 2010 an einem überaus bösartigen Gehirntumor leidet und die Auswirkungen der Krankheit sowie die Therapieversuche in einem Blog öffentlich macht (www.wolfgang-herrndorf.de). Immer wieder geht es um die Frage, was es für ein Leben bedeutet, wenn es nicht nur endlich ist, sondern das Ende schon in Sichtweite liegt.

Im Blog reflektiert Herrndorf auch die Entstehung seines neuen – und jetzt mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämierten – Romans „Sand“. Die ersten Leser aus dem Freundeskreis, schreibt er, hätten gemeint, „dass die Handlung keiner kapiert“. Kein Wunder! Denn im Zentrum des Geschehens steht ein Mann, der sein Gedächtnis verloren hat und nicht einmal mehr weiß, wer er ist. Dafür wissen das verschiedene Interessengruppen sehr genau. Sie versuchen, ihm auf sanfte und unsanfte Weise ein Geheimnis zu entlocken, das er selbst nicht kennt.

Parodie des Agentengenres

Kunstvoll tiefgestapelte Parodie

Eine reizvolle Ausgangskonstellation, die man so oder ähnlich aus Agentenfilmen kennt: von Hitchcocks „North by Northwest“ bis zu Doug Limans „Bourne Identity“. „Sand“ wirkt ein bisschen wie eine Parodie dieser Werke, eine Parodie des gesamten Genres: Statt Helden gibt es hier nur Versager. „Ich hab noch nie so viele Trottel auf einem Haufen gesehen“, sagt eine entnervte Agentin im Lauf des Romans, und als der Autor sich in seinem Blog selbst fragt, welchem Genre sein Buch wohl zuzurechnen sei, gibt er zur Antwort: „dem Genre des Trottelromans“. Das ist kunstvoll tiefgestapelt, denn „Sand“ ist ein tolles Stück Prosa – ein Roman, wie man ihn so oder ähnlich noch nie gelesen hat.

Was geht nicht alles schief zwischen Targat und Tindirma, den beiden fiktiven Orten eines Wüstenstaates, der nur entfernte Ähnlichkeit mit Marokko aufweist. Es ist, als stecke der Sand überall drin und verhinderte, dass sich die Rädchen der Agentenmechanik schön schnurrend drehen. Das „Dings“, um das sich die ganze Action dreht – vielleicht sind es, in einem Kugelschreiber versteckt, mikroskopisch verkleinerte Pläne zum Bau einer Atombombe, genau weiß man das nicht – wird von der Hauptfigur mehrfach verschusselt (und wiedergefunden). Zeugen machen die widersprüchlichsten Angaben, etwa wie viele Schüsse bei einem Attentat gefallen seien: „Hunderte, Dutzende, viele, zwei.“ Selbst bei der Elektroschock-Foltersitzung, die der Autor melodramatisch in einer Höhle tief in einem verlassenen Bergwerk platziert, funktioniert der Stromkreis erst einmal nicht. Groteske Situationen, Slapstickszenen durchziehen den Roman, der gleichwohl den coolen Ton der vollkommenen Ungerührtheit durchhält, irgendwo zwischen Flauberts „impassibilité“ und dem Pokerface des Stummfilmstars Buster Keaton. Lustig und unterhaltsam geht es also zu, obwohl einem diese beiden Attribute zugleich völlig unangemessen erscheinen wollen.

Unterkühlter Erzähler

Halten wir uns also an die Fakten: Herrndorf bringt eine Fülle von Personen miteinander ins Geschäft und ins Spiel, von denen keiner genau begreift, was er da tut. Neben „Carl“, wie der Gedächtnislose hilfsweise getauft wird, treten die Kosmetikvertreterin Helen auf, ihre esoterische Freundin Michelle, Michelles Guru, ein arabischer Amokläufer namens Amadou Amadou, die Polizisten Canisades und Polidorio, ein durchgeknallter Ex-Bergmann namens Hakim III, eine namenlose Prostituierte, ein Mafiapate und seine Bodyguards, ein Agent namens Herrlichkoffer, ein Psychiater, der „Carl“ als Simulanten überführen will.

Der Leser ist auch orientierungslos

Je ungeheuerlicher das Geschehen, desto unterkühlter erzählt Herrndorf. Mag er seinen Helden auf dem elektrischen Stuhl noch so sehr peinigen, es wird allerhöchstens konstatiert: „Carl schwitzte vor Angst.“ Dass wenigstens der Autor die Übersicht behält, kann man auch nicht sagen, deshalb stolpert der Leser genauso trottelig wie die Personen durch die Handlung. Das soll und muss so sein. Der Autor ist nicht jener grausame Gott, von dem es in Büchners „Danton“ heißt, er weide sich an den Zuckungen seiner Geschöpfe. Eher schaut er verwundert zu, was ihnen da alles widerfährt.

„Absurd“ war einmal, während der existenzialistischen Epoche, ein ästhetisch-philosophisches Schlüsselwort. Wolfgang Herrndorf ist vielleicht so etwas wie ein wiedergeborener Vertreter des Absurden als Weltanschauung. Nur ist er viel zu diskret, sie wie ein Werbesandwich vor sich herzutragen. Er versteckt sie in einem Mix der Genres und Töne, färbt sie mit Reminiszenzen aller möglichen Populär- und Trivialmythen ein. Dahinter steckt aber eine tiefe Traurigkeit, und das ist keine naseweise Kritiker-Spekulation, sondern bezeugt von Herrndorfs Blog, wo er von der „unbegreiflichen Nichtigkeit menschlicher Existenz“ schreibt: „In einem Moment belebte Materie, im nächsten dasselbe, ohne Adjektiv.“ Geschrieben von einem, der selbst seit Monaten dem Tod ins Auge schaut. Das trägt zur Verunsicherung und Unbehaglichkeit des Lesers nicht wenig bei. Und der Überzeugung, hier etwas ganz Besonderes in Händen zu halten.

Wolfgang Herrndorf: Sand. Roman. Rowohlt, Berlin 2011. 480 S., 19,95 Euro