Um Armut zu bekämpfen braucht es eine beherzte Politik, sagt Wolfgang Sartorius, der Vorsitzende des diakonischen Sozialunternehmens Erlacher Höhe im Interview.

Leserredaktion : Kathrin Zinser (zin)

Großerlach - Beim diakonischen Sozialunternehmen Erlacher Höhe suchen von Armut betroffene Menschen Unterstützung. Laut dem Vorstandsvorsitzenden, Wolfgang Sartorius, ist Armut vor allem Ausdruck bestehender sozialer Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit.

 
Herr Sartorius, ab wann ist jemand arm?
Bezogen auf Einkommen reden wir innerhalb der EU von Armutsgefährdung, wenn Menschen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens vergleichbarer Haushaltsgrößen haben. Bei alleinstehenden Personen sind dies in Baden-Württemberg aktuell 1033 Euro im Monat, die zur Verfügung stehen. Aber Armut hat viele weitere Facetten wie Bildung, Gesundheit, Lebenserwartung und soziale Teilhabe.
Wie stark ist Armut hier verbreitet?
Nach unserem Verständnis sind Menschen arm, wenn sie die Voraussetzungen zum Bezug von Grundsicherungsleistungen erfüllen. Aufgrund der sehr knapp bemessenen Leistungen bleiben sie damit in aller Regel arm. Aktuell betrifft das ungefähr 13 000 Personen im Rems-Murr-Kreis, so die Statistik der Arbeitsverwaltung. Dazu kommt eine Zahl an Menschen, die keine Leistungen beantragt, also eine unbekannte Größe, die eine Dunkelziffer darstellt.
Die Wirtschaft boomt, trotzdem sind Menschen arm – wie kann das sein?
Ein zentrales Ursprungsversprechen der sozialen Marktwirtschaft, der „Wohlstand für alle”, scheint als politisches Ziel aufgegeben worden zu sein. Wirtschaftswachstum und Armutsentwicklung sind in Deutschland seit vielen Jahren voneinander entkoppelt. Sie finden gleichzeitig statt, solange Politik wesentliche Rahmenbedingungen nicht verändert. Seit vor 15 Jahren die Hartz-Gesetze in Kraft traten, hat die Spaltung, die sich im Maß der Ungleichheit ausdrückt, eher zu- als abgenommen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Mietpreise – steigenden Mieten und Wohnkosten stehen die nur verhalten wachsenden Nettoeinkommen der privaten Haushalte gegenüber. Während die Einkommen in den vergangenen fünf Jahren im Durchschnitt um knapp acht Prozent zugelegt haben, sind die Mieten um 17 Prozent gestiegen. In den unteren Einkommensgruppen klafft die Schere noch weiter auseinander, denn dort haben sich die Gehälter unterdurchschnittlich entwickelt. Somit wird es für diese Haushalte zunehmend unmöglich, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Solche Entwicklungen lassen sich nicht individuell verändern, sondern nur durch eine beherzte Politik. Und da haben wir in den vergangenen Legislaturperioden viel Mutlosigkeit erlebt, obwohl Wirtschaftsentwicklung und Steueraufkommen viele Chancen boten.
Wie lässt sich Armut bekämpfen?
In Deutschland sehe ich wesentliche Ansatzpunkte in einer Politik, die die vom Grundgesetz geforderten, gleichwertigen Lebensbedingungen realisiert. Dazu gehört eine Familien- und Bildungspolitik, die Kindern gute Startchancen gibt, genauso wie eine Politik, die Altersarmut verhindert und es am Arbeitsmarkt ausgegrenzten Menschen ermöglicht, wieder beruflich Fuß zu fassen. Was die Wohnungsnot betrifft, könnten mit erhöhten Abschreibungen Privatinvestitionen in sozialen Wohnungsbau angereizt werden. Auch die überfällige Anpassung der Regelsätze in der Grundsicherung wäre ein Segen.