Je mehr ich mich mit dem NSU-Komplex beschäftigte, je besser ich diese zweiten Geschichten kennenlerne, an deren Ende es oft weitere Todesfälle von Zeugen gegeben hat, über die kaum jemand spricht, desto öfter fragte ich mich, in was für einem Land ich eigentlich lebe. Stimmt mein Bild von der halbwegs liberalen Gesellschaft, in der Recht und Gesetz gelten, in der die Behörden an dieses Recht gebunden handeln?

 

Während ich diese Zeilen schreibe, erreicht mich die Meldung, dass es im Kontext des NSU-Komplexes ein weiteres Todesopfer gegeben hat: die Ex-Freundin von Florian H. Blicken wir noch einmal zurück: Zwei Zeugen, der V-Mann Corelli und Florian H., beide aussagewillig, starben, bevor sie vernommen werden konnten. Corelli an einer „unerkannten Diabetes“ (?) im Zeugenschutzprogramm; H., der behauptete, er wisse, wer Michèle Kiesewetter wirklich umgebracht hat, verbrannte bei lebendigem Leib. Und auch hier findet man wieder die merkwürdigsten Widersprüche. Florian H., soll sich – so der Staatsanwalt – aus Liebeskummer selbst angezündet haben. Erstaunlich nur, dass er gerade auf dem Weg zu seiner Zeugenaussage war. Was, so frage ich mich, ist das Motiv des ermittelnden Staatsanwalts, Selbstmord aus Liebeskummer festzustellen, bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren?

Feuchter Traum jedes Verschwörungstheoretikers

Und nun stirbt die ehemalige Freundin von Florian H. „an einer Lungenembolie“, jene junge Frau, die vor einigen Tagen dem Untersuchungsausschuss ausgesagt hat; in nicht-öffentlicher Sitzung, weil sie sich bedroht sah. Ich lese eben, dass durch die Obduktion keine Fremdeinwirkung nachgewiesen werden konnte. Ich frage mich, wie wohl die zweite Geschichte hinter dieser lautet. Und die StZ führt in diesem Zusammenhang einen weiteren Toten auf: der damals 18-Jährige Arthur C. starb 2009 neben seinem ausgebrannten Auto zwischen Eberstadt und Cleversulzbach nahe Heilbronn den Flammentod. Das Sterben hört mit dem Ableben von Mundlos und Böhnhardt nicht auf. Trügt mein Eindruck, hier räume jemand hinter dem NSU weiter auf? Die Botschaft ist leicht zu entziffern: Wer reden will, stirbt einen harten Tod. Ist das der Grund, warum Beate Zschäpe im Münchner Prozess so hartnäckig schweigt?

Journalisten und Autoren, die durch ihre Berichterstattung diese und viele weitere Widersprüche sichtbar machen, ist entgegengehalten worden, sie verfassten „Verschwörungstheorien“. Doch gegenüber dem, was allein der baden-württembergische NSU-Untersuchungsausschuss seit seiner Gründung im November 2014 zu Tage gefördert hat, ist der feuchteste Traum eines Verschwörungstheoretikers harmlos. Eher ist es so, wie Stefan Aust kürzlich vor diesem Untersuchungsausschuss sagte: Die einzige Verschwörungstheorie im NSU-Komplex ist die behauptete Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden.

Ich fragte einige Polizisten, die ich von Recherchen zu früheren Büchern kannte, welchen Sinn die Anwesenheit von zwei bewaffneten Männern am Tatort ergeben könnte. Ich erhielt zwei Antworten. Die erste: vom Standort der beiden vor Demirs Büro wäre es leicht gewesen, die Bombe mit einem Fernzünder explodieren zu lassen. Die zweite: die Männer hätten von dort den Rückzug des Attentäters, der die Bombe, das weiß man heute, auf einem Fahrrad vor einem Friseursalon deponiert hatte, nur wenige Meter von Ali Demirs Büro entfernt, decken können. Wäre etwas schiefgegangen, hätten beispielsweise Passanten den Bombenkurier festgehalten, dann hätten die beiden Bewaffneten den Terroristen aus dem Tumult ziehen können.

Jetzt, nachdem ich Ali Demirs Geschichte gehört und geprüft hatte, wollte ich mehr wissen. Ich hatte als Erzähler Feuer gefangen und war entschlossen, meinen Krimihelden, den Stuttgarter Privatermittler Georg Dengler, mit dieser Sache zu befassen. Ich lernte einige Polizisten kennen, die schon vor der Jahrtausendwende gegen die Neonaziszene in Thüringen ermittelt und die drei Untergetauchten, also Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe, oft vernommen hatten. Sie hatten den Werdegang der drei über Jahre begleitet. Diesen Polizisten stellte ich die Frage, die sich mir beim Lesen der Schlagzeilen gestellt hatte: Wie kann es sein, dass das Trio trotz hohem Fahndungsdruck nicht nur nicht gefasst wurde, sondern mordend, raubend und bombend durchs Land zog, ohne dass jemand etwas merkte?

Alle im Raum wussten Bescheid

Die Reaktion in den Gesichtern: Betroffenheit, Wissen, Hilflosigkeit. Wieder erzählte mir jemand eine Geschichte hinter der Geschichte. Zunächst: der Fahndungsdruck war nicht hoch, wie ich annahm. Die inoffizielle (vermutlich zutreffende) Story zum Abtauchen des terroristischen Trios liest sich so: Im September 1997 entdecken Kinder auf dem Platz vor dem Theater in Jena einen Koffer, der mit einem Hakenkreuz bemalt ist. In dem Koffer befindet sich eine Bombe ohne Zünder, eine Attrappe, nichts Ungewöhnliches im Thüringen der damaligen Zeit, aber zum ersten Mal ist in dieser Attrappe zündfähiges TNT. In einer diesem Fund folgenden Besprechung von Polizisten des Thüringer LKA mit Beamten des dortigen Amts für Verfassungsschutz erklären Polizisten sinngemäß: Jeder hier im Raum wisse, wer die Bombenbauer seien, nämlich die Rechtsradikalen vom Thüringer Heimatschutz, aber auch, dass die Anführer dieser Bande V-Leute des Verfassungsschutzes seien. Jetzt, da TNT im Spiel sei, das von Kindern gefunden worden sei, sei man nicht länger bereit, die Machenschaften des Landesamtes mitzutragen. Es gab große Aufregung und Vorwürfe von beiden Seiten.

Die Überführung des Terrortrios in den Untergrund

Einige Zeit später meldet das Landesamt für Verfassungsschutz dem LKA, man wisse jetzt, wo die Bomben gebaut würden. Die Adresse einer angemieteten Garage werde der Polizei mitgeteilt, aber streng geheim, es gebe also keine Mitteilung an die Staatsanwaltschaft. Außerdem sei die Bedingung der Information: keine Festnahmen, keine Durchsuchung von Pkws.

Die Polizei öffnet die Garage und findet tatsächlich die lange gesuchte Bombenwerkstatt, Rohre, TNT, Werkzeuge, alles ist da. Uwe Böhnhardt erscheint, sieht die Beamten (keine Festnahme), steigt in seinen Wagen (keine Durchsuchung von Pkws) und fährt davon. Erst Tage später wird der „Streng geheim“-Vermerk aufgehoben, erst jetzt ergeht Haftbefehl gegen die drei Flüchtigen: neben Böhnhardt auch Mundlos und Zschäpe. Damit nicht genug: das Landesamt für Verfassungsschutz meldet, die drei befänden sich im Ausland. Der Haftbefehl wird zwar nicht aufgehoben, aber die Fahndungsmaßnahmen werden wegen dieser falschen Information deutlich heruntergefahren. Dies, so höre ich seither von Polizisten, sei nichts anderes gewesen als die organisierte Überführung des Terrortrios in den Untergrund.

Wenn der Polizeidirektor den Tatort zerstört

Nun nimmt die größte Mordserie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ihren Anfang. Fast jedes einzelne dieser Verbrechen erzählt zwei Geschichten, eine für die Öffentlichkeit und eine andere, die sich erst durch Recherche erschließt.

Einige Beispiele: beim Anschlag auf ein Internetcafé in Kassel 2006 befindet sich ein Beamter des hessischen Verfassungsschutzes unmittelbar am Tatort, wenige Meter von Mörder und Opfer entfernt. Er sieht nichts, hört nichts, riecht den Pulverdampf nicht, und er meldet sich nach der Tat nicht bei der Polizei, angeblich weil er keine Zeitungen liest. Wer glaubt solchen Unsinn? In Eisenach/Stregda zerstört Polizeidirektor Mentzel den Tatort, einen Fiat Camper, in dem sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt angeblich erschossen haben, indem er den Camper mit den beiden Leichen darin im 40-Grad-Winkel gekippt auf einen Laster hochziehen und abtransportieren lässt. Die Leichen, die Gegenstände im Wagen, Waffen, alles eben jene Beweisstücke, die im Nachhinein die Mordserie bis hin zu Michele Kiesewetter erklären sollen – all dies fliegt durcheinander und wird so in der offenen Halle des Transportunternehmens abgestellt. Diese Zerstörung eines so wichtigen Tatorts durch die Polizei selbst ist in der deutschen Kriminalgeschichte einmalig und mit polizeilichen Erfordernissen nicht zu erklären.

In was für einem Land leben wir eigentlich?

Je mehr ich mich mit dem NSU-Komplex beschäftigte, je besser ich diese zweiten Geschichten kennenlerne, an deren Ende es oft weitere Todesfälle von Zeugen gegeben hat, über die kaum jemand spricht, desto öfter fragte ich mich, in was für einem Land ich eigentlich lebe. Stimmt mein Bild von der halbwegs liberalen Gesellschaft, in der Recht und Gesetz gelten, in der die Behörden an dieses Recht gebunden handeln?

Während ich diese Zeilen schreibe, erreicht mich die Meldung, dass es im Kontext des NSU-Komplexes ein weiteres Todesopfer gegeben hat: die Ex-Freundin von Florian H. Blicken wir noch einmal zurück: Zwei Zeugen, der V-Mann Corelli und Florian H., beide aussagewillig, starben, bevor sie vernommen werden konnten. Corelli an einer „unerkannten Diabetes“ (?) im Zeugenschutzprogramm; H., der behauptete, er wisse, wer Michèle Kiesewetter wirklich umgebracht hat, verbrannte bei lebendigem Leib. Und auch hier findet man wieder die merkwürdigsten Widersprüche. Florian H., soll sich – so der Staatsanwalt – aus Liebeskummer selbst angezündet haben. Erstaunlich nur, dass er gerade auf dem Weg zu seiner Zeugenaussage war. Was, so frage ich mich, ist das Motiv des ermittelnden Staatsanwalts, Selbstmord aus Liebeskummer festzustellen, bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren?

Feuchter Traum jedes Verschwörungstheoretikers

Und nun stirbt die ehemalige Freundin von Florian H. „an einer Lungenembolie“, jene junge Frau, die vor einigen Tagen dem Untersuchungsausschuss ausgesagt hat; in nicht-öffentlicher Sitzung, weil sie sich bedroht sah. Ich lese eben, dass durch die Obduktion keine Fremdeinwirkung nachgewiesen werden konnte. Ich frage mich, wie wohl die zweite Geschichte hinter dieser lautet. Und die StZ führt in diesem Zusammenhang einen weiteren Toten auf: der damals 18-Jährige Arthur C. starb 2009 neben seinem ausgebrannten Auto zwischen Eberstadt und Cleversulzbach nahe Heilbronn den Flammentod. Das Sterben hört mit dem Ableben von Mundlos und Böhnhardt nicht auf. Trügt mein Eindruck, hier räume jemand hinter dem NSU weiter auf? Die Botschaft ist leicht zu entziffern: Wer reden will, stirbt einen harten Tod. Ist das der Grund, warum Beate Zschäpe im Münchner Prozess so hartnäckig schweigt?

Journalisten und Autoren, die durch ihre Berichterstattung diese und viele weitere Widersprüche sichtbar machen, ist entgegengehalten worden, sie verfassten „Verschwörungstheorien“. Doch gegenüber dem, was allein der baden-württembergische NSU-Untersuchungsausschuss seit seiner Gründung im November 2014 zu Tage gefördert hat, ist der feuchteste Traum eines Verschwörungstheoretikers harmlos. Eher ist es so, wie Stefan Aust kürzlich vor diesem Untersuchungsausschuss sagte: Die einzige Verschwörungstheorie im NSU-Komplex ist die behauptete Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden.

Der in Stuttgart lebende Autor Wolfgang Schorlau greift in seinem neuen Krimi „Die schützende Hand“ das Thema NSU und braunes Netzwerk aus Verfassungsschützern und Neonazis auf. Der achte Fall für Dengler erscheint im Herbst.

Das ZDF hat „Die letzte Flucht“, einen früheren Dengler-Krimi, mit Ronald Zehrfeld und Birgit Minichmayr verfilmt. Erstausstrahlung am 20. April, 20.15 Uhr, Preview im Kommunalen Kino Esslingen am 19. April, 18.30 Uhr (Vorverkauf empfohlen).