ExklusivWolfgang Schorlau über den NSU Die zweite Geschichte

Das Terrortrio Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe zog jahrelang eine blutige Spur durch die Republik, die Ermittlungsbehörden kamen ihm nicht auf die Schliche. Mit Schlamperei allein ist das nicht zu erklären, meint der Krimiautor Wolfgang Schorlau.
Stuttgart - Als nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 5. November 2011 die Schlagzeilen der Zeitungen Unfassbares mitteilten wie „Dönermorde: Verdacht gegen Zwickauer Neonazis“, erging es mir wie Ihnen vermutlich auch. Ich hatte zunächst keine Zweifel. Zwei Mitglieder eines teuflischen rechten Verbrechertrios hatten sich umgebracht. Beate Zschäpe war verhaftet worden. Nun gut, dann waren es wohl doch rechte Kräfte gewesen, die für die Serie von Morden an türkisch- und griechischstämmigen Kleingewerbetreibenden verantwortlich waren. Schrecklich für dieses Land. Ich fragte mich zwar für einen Moment, wie es sein kann, dass sich im dicht besiedelten Deutschland mit einem der besten Fahndungsapparate der Welt drei Personen über Jahre einer intensiven Verfolgungsjagd entziehen können, mehr noch, dass sie in dieser Zeit zehn Menschen kaltblütig ermorden, Bomben legen und Dutzende von Banken überfallen, ohne dass der Schatten eines Verdachts auf sie fällt. Ich war jedoch mit Alltagsdingen beschäftigt und ging dieser Frage nicht weiter nach.
Dies änderte sich, als ich Ali Demir kennenlernte. Im Frühjahr 2014 wurde ich zu zwei Lesungen nach Köln eingeladen, der Anlass war ein großes Solidaritätsfest zum zehnten Jahrestag des Bombenanschlags auf das türkische Geschäftsviertel Keupstraße. Dieser Anschlag ging laut Ermittlern auf das Konto Mundlos/Böhnhardt. Ein Freund stellte mir Ali Demir vor, und der erzählte mir seine Geschichte: Er war am Tag des Anschlags in seinem Steuerberaterbüro in der Keupstraße, als die Oberlichter des Büros brachen und er den Knall einer großen Explosion hörte. Er warf sich auf den Boden und dachte zunächst, im Lokal gegenüber sei eine Gasflasche geborsten. Er blieb einen Augenblick liegen und wartete, ob weitere Behälter explodieren würden. Dann stand er auf, sah durch das Schaufenster auf die Straße. Direkt davor stand ein Mann, ein Deutscher, der erkennbar eine Schusswaffe in einem Schulterhalfter unter dem Jackett trug. Polizei in Zivil, dachte Demir, gut, dass sie schon da ist, und trat auf die Straße. Was denn passiert sei, wollte er von den Polizisten wissen. Der wies nur auf den Boden, wo dampfendheiße Zimmermannsnägel lagen. Andere hatte die Wucht der Explosion in menschliche Körper, in Wände, Fenster, Autos, Bäume geschleudert. Und da lagen schreiende, blutende Personen. Demir beobachtete, wie der Polizist vor seinem Haus mit einem ebenfalls bewaffneten Kollegen auf der anderen Seite der Straße sprach, dann erst lief Demir hinüber zur Unglücksstelle, um den Verletzten zu helfen. Die beiden Männer kümmerten sich nicht. Sie schienen einen anderen Auftrag zu haben.
Es gab einen Zeugen – niemand wollte ihn hören
Die offizielle Version dessen, was nach der verheerenden Explosion geschah, ist bekannt: Bereits zwei Stunden später durchsuchte die Polizei wahllos die erste Wohnung von Bewohnern der Keupstraße, sie wurden verdächtigt. Die „türkische Mafia“ sei schuld, hieß es. Es folgten Verhöre, erneute Durchsuchungen, und als dies alles keine Beweise beibrachte, kamen die Finanzprüfer. Erst sechs Jahre später, nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt, wurde endlich die unerträgliche Last des Verdachts von den Menschen genommen, die in der Keupstraße leben. Die Schuldigen hießen jetzt Mundlos und Böhnhardt.
Interessant ist jedoch, wie Ali Demirs Geschichte weitergeht. Hier zeigt sich eine zweite Geschichte hinter der ersten – jener, die alle kennen und alle kennen sollen. Und diese zweite unbekannte, oft unheimliche Geschichte, die hinter der offiziellen Version verborgen bleibt, begegnet mir seither immer wieder; bei jedem einzelnen Fall des NSU-Komplexes, den ich im vergangenen Jahr untersucht habe. Obwohl Ali Demir Geschädigter des Attentats und Augenzeuge war, wurde er nie vernommen. Niemand von offizieller Seite wollte seine Geschichte hören, niemand etwas wissen von den zwei Männern vor seiner Ladentür. Erst als Jahre später der NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags seine Arbeit aufnahm, erreichten Journalisten, dass Demir vom Ausschuss gehört wurde. Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen präsentierte zwei Beamte, die zufällig in der Nähe des Anschlagortes gewesen sein sollen. Doch Demir sagte eindeutig aus, dass das nicht die beiden waren, die er gesehen hatte. Wir wissen bis heute nicht, um wen es sich bei den beiden bewaffneten Männern handelte, die zur Tatzeit am Tatort waren, aber sich nicht um die Verletzten oder die Tatort-Sicherung kümmerten. Wir wissen nicht, ob es tatsächlich Polizisten waren. Nach ihnen wurde nie gefahndet.
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