Kultur: Tim Schleider (schl)

Das für ein feinsinniges Gespräch über Kunst führen Mann und Frau über den Dächern von New York. Dumm, dass kleine Untertitel derweil verraten, was sie denken: „Ich frage mich, wie sie wohl nackt aussieht“ steht da, während der Mund „Fotografie ist ein großartiges Medium“ plappert. In Der Stadtneurotiker hat Woody Allen das Faunische seiner Figuren für mich auf den Punkt gebracht, die Triebsteuerung der Zivilisierten. Das ist aber nicht der einzige Gegensatz, der hier für die Ewigkeit abgehandelt wird. Ein kleiner Am-Rande-Steher berichtet von seiner Zerbrechlichkeit, Inkompetenz und Hilflosigkeit – und formt aus Minderwertigkeitskomplexen ein Ego, das es mit ganz Manhattan aufnimmt. Ein Kerl, der vorführt, dass er Frauen nicht versteht und ihre Erwartungen nicht erfüllen kann, braut aus diesem Versagen einen potenten Liebeszauber. Sogar die Eindeutschung wird von der Stärkung der Schwächlinge mit erfasst. „Der Stadtneurotiker“ ist der Allen-Titel und die Allen-Analyse schlechthin geworden, die Kurzformel fürs Gesamtwerk. Dabei heißt dieser Film im Original nur „Annie Hall“.