Manche Firma leitet E-Mails am Abend nicht mehr weiter. Aber müssen tatsächlich alle Mitarbeiter vor Überlastung geschützt und zur Freizeit gezwungen werden? Psychologen sagen: Nicht jeder reagiert gleich, es kommt auf den Typ an.

Leben: Ricarda Stiller (rst)

Stuttgart - Wo hört die Arbeit auf, wo fängt die Freizeit an? Ist es Arbeitszeit, wenn man sich mit Kollegen auf ein Bier trifft und dabei auf neue Ideen kommt? Ist es bereits schädlich für die Balance zwischen Berufs- und Privatleben, wenn man auf seinem privaten Smartphone dienstliche E-Mails abruft? Möglicherweise sogar beantwortet? Und wenn man auch im Urlaub täglich die dienstlichen Nachrichten abruft? Werden diese Entgrenzten, wie sie von Psychologen genannt werden, früher oder später mit der Diagnose Burnout konfrontiert?

 

Neuere Studien von Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen belegen, dass es eine Frage des Typs ist, ob man darunter leidet, dass die Grenze zwischen Arbeits- und Lebenswelt verschwimmt. Während die einen großen Wert darauf legen, Privat- und Berufsleben strikt voneinander zu trennen, fällt es anderen gar nicht auf, dass sie gerade in ihrer Freizeit arbeiten oder sich weiterbilden. Zwei weitere Persönlichkeitstypen werden auf der folgenden Seite vorgestellt.

Dennoch gibt es Psychologen, die sagen, dass es unabdingbar sei, seinen Feierabend, sein Wochenende und seinen Urlaub klar von der Arbeitszeit zu trennen – und dann auch keine E-Mails zu lesen. Wenn Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) nun mit einem Kodex die Erreichbarkeit ihrer Mitarbeiter regelt, mögen dies die einen unnötig finden, die anderen aber sagen, es sei höchste Zeit. Denn nicht jeder, der noch bis spät in den Abend oder morgens schon vor dem Frühstück in seine E-Mails schaut, tut dies freiwillig.

Wer freiwillig E-Mails checkt, empfindet das nicht als Last

In Befragungen kommt immer wieder das Gleiche heraus: Schaut jemand freiwillig in seine dienstlichen E-Mails, empfindet er das in der Regel auch nicht als Last. Steht jedoch – ausgesprochen oder unausgesprochen – die Erwartung des Chefs dahinter, dass auch die E-Mails, die er nach 20 Uhr verschickt, am nächsten Morgen bearbeitet sein müssen, empfinden Arbeitnehmer es als Druck. Sie sind es, die gefährdet sind, an Schlafstörungen, Überlastungssyndromen, Burnout oder Depressionen zu erkranken.

Man kann es so halten wie manche große Firmen und die Mitarbeiter vor E-Mails schützen. Die beiden Autobauer VW und Daimler haben sich dazu entschieden. So werden bei VW nach Dienstschluss keine E-Mails mehr weitergeleitet und bei Daimler kann man auf Wunsch alle Mails löschen lassen, die während des Urlaubs ins Postfach trudeln. Für Selbstständige oder kleinere Firmen ist diese Option nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen.

Weil die IT-Branche von den veränderten Arbeitsbedingungen in besonderem Maße betroffen ist, Mitarbeiter regelmäßig einen großen Weiterbildungsbedarf haben und die Arbeit oft auch außerhalb normaler Arbeitszeiten gemacht werden muss, hat die Universität Trier in ihrem interdisziplinären Forschungsprojekt „Arbeiten – Lernen – Leben in der Wissensarbeit (Allwiss)“ diese Berufsgruppe in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen gestellt. Zu der viel diskutierten Work-Life-Balance, dem Gleichgewicht von Arbeits- und Lebenswelt, haben die Psychologen das (lebenslange) Lernen hinzugenommen. Als Wissensarbeiter werden all jene bezeichnet, die Wissen erzeugen, bündeln und weitergeben – in der Informationsgesellschaft eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern.

Was es bedeutet, wenn sich die Grenze zwischen Beruflichem und Privatem – sowohl räumlich als auch zeitlich – nicht mehr klar definieren lässt, darüber haben sich die Arbeitspsychologen in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung mit dem „Allwiss-Projekt“ Gedanken gemacht. Der Psychologe Conny Antoni von der Universität Trier sagt dazu in einem Interview im Deutschlandfunk, dass es durch immer kurzfristigere Flexibilitätsanforderungen an die Arbeitnehmer immer schwieriger würde, eine gesunde Balance einzuhalten.

Man kann nicht auf Vorrat lernen

Ein Ausgleich zur Arbeit muss zeitlich eingeplant werden können. Wenn die Arbeitszeit jedoch nicht klar definiert ist, weil man beispielsweise in einem Projekt arbeitet, bei dem der Chef darüber entscheidet, wann Feierabend ist, müssen das Abendessen mit der Familie, das Treffen mit Freunden, der Theater- oder Kinobesuch, Trainingszeiten im Sportverein oder die Chorprobe ausfallen. Das führt zu einer ungesunden, weil ungewollten, Verschiebung in Richtung Arbeit. Unzufriedenheit oder gar Burnout drohen. Diesen Menschen gelingt es meist nicht, sich ausreichend von der Arbeit zu erholen.

Ursprünglich kommt die Diskussion über die Work-Life-Balance daher, dass vor allem Frauen es als eine große Belastung empfinden, Beruf und Familie zu vereinbaren. Selbstverständlich gibt es auch weitere Bereiche im Leben, die mit dem Beruf und eben auch dem Lernen vereinbart werden müssen. Die einen empfinden diesen Spagat als Belastung, andere als Bereicherung und nutzen dafür Ressourcen aus ihrem Privatleben. Und für Arbeitgeber ist es natürlich von Vorteil, wenn sich das Personal auch privat mit Beruflichem beschäftigt.

Die meisten haben sich mittlerweile darauf eingestellt, ein Leben lang zu lernen. Rita Meyer, Professorin für Berufspädagogik an der Universität Hannover, die ebenfalls an dem Projekt „Allwiss“ mitgearbeitet hat, sagt, das neue informelle Lernen während der Arbeit geschehe häufig selbst organisiert. Heutzutage könne man kaum auf Vorrat lernen. Zum Teil würden die Arbeitnehmer gar nicht wahrnehmen, dass sie lernen, weil es während der Arbeit passiere. Aber auch zum Beispiel in der Sauna nach dem Messebesuch, im Austausch mit Kollegen werde gelernt, sagt Meyer.

Lernen ist mittlerweile räumlich und zeitlich entgrenzt – es kann immer und überall gelernt werden. Für manche Arbeitnehmer ist das ein Problem, für andere eine Selbstverständlichkeit. Ebenso verhält es sich mit der permanenten Erreichbarkeit über das Handy. Bekommt man es vom Arbeitgeber gestellt, verbunden mit der Auflage, erreichbar zu sein, kann es eine Belastung darstellen. Wird es überwiegend privat und gerne genutzt, empfindet man eine SMS von Kollegen kaum als aufdringlich. Letztlich kommt es vor allem darauf an, in welcher Lebensphase man sich gerade befindet. Es ist ein Unterschied, ob man als Berufseinsteiger Karriere machen möchte, gerade eine Familie gründet oder vielleicht pflegebedürftige Eltern hat, um die man sich kümmern muss. Das muss bei der Work-Learn-Life-Balance berücksichtigt werden.

Typologie der Psychologen

Typologie
Im Allwiss-Forschungsprojekt der Universität Trier unterscheiden Psychologen vier Persönlichkeitstypen im Umgang mit der Work-Life-Balance:

1. Der Abgrenzende
Dieser Typ weist eine klare, bewusst gewählte räumliche und zeitliche Trennung zwischen Privat- und Arbeitsleben auf. Arbeit und Lernen werden als Notwendigkeit zur Erwerbssicherung gesehen. Dieser Typ hat eine geringe Karriereorientierung und stellt keine Ressourcen aus dem Privatleben für Weiterbildung zur Verfügung.

2. Der Kompromissler
Dieser Typ versucht Privates und Berufliches so weit wie möglich zu trennen, wobei kleine Überschneidungen als unumgänglich empfunden werden. Den geringen Grad an Überschneidungen fasst er als Idealzustand auf. Typ 2 empfindet die Balance zwischen Arbeiten und Lernen auf der einen Seite und Privatleben auf der anderen Seite als ausgeglichen.

3. Der Flexible
Zu diesem Typ zählen Beschäftigte, deren Arbeits- und Privatleben sich stark überschneiden. Typ 3 steht meist am Beginn der Karriere und zeigt ein hohes Maß an Arbeitsengagement. Er beschäftigt sich auch in der Freizeit gedanklich viel mit der Arbeit und dem Lernen. Er wünscht sich zwar eine stärkere Trennung der Lebensbereiche, geht aber davon aus, dass eine vollständige Trennung nicht möglich wäre.

4. Der Entgrenzte
Der vierte Typ zeichnet sich durch eine völlige Entgrenzung der Bereiche Arbeit, Lernen und Leben aus. Arbeit und Lernen bezeichnet er als die bedeutsamsten Faktoren im Leben. Von sich selbst sagen Personen dieses Typs: „Ich bin unfähig, Arbeit und Privatleben zu trennen.“ So sei es eben. Dieser Typ gehört oft schon sehr lange einem Betrieb an oder arbeitet in einer Führungsposition.