Ay-ay-ay! Der Württembergische Kunstverein in Stuttgart legt die politischen Wurzeln des Flamencos frei. Was historisch erhellend beginnt, endet zähflüssig.

Stuttgart - Die Ratte ist schon halb verwest. Aber auch die Frau, die auf dem toten Riesennager steht, sieht nicht gut aus: Gesäß und Beine sind von Geschwüren überwuchert, in der Vagina steckt eine Kartoffel. Für die musikalische Untermalung des morbiden Ensembles, das auf die jahrhundertelange Stigmatisierung von Leprakranken anspielt, sorgt unter anderem der spanische Sänger Niño de Elche, der durch experimentelle Interpretationen des klassischen Flamencos bekannt wurde. Insofern ergibt es einen Sinn, die Klangskulptur von Ines Doujak gleich im Eingangsbereich aufzubauen, gibt die österreichische Objektkünstlerin doch den Takt für die gesamte Schau vor.

 

Denn die spanischen Roma, die Erfinder des Flamencos, sind das Paradebeispiel für jene Ausgestoßenen und Entrechteten, denen sich der Württembergische Kunstverein (WKV) in Stuttgart einmal mehr widmet. Unter dem Motto „Una forma de ser“ („Eine Form des Seins“) schickt man die im Frühjahr begonnene Präsentationsreihe „Actually, the Dead are not dead“ in die nächste Runde.

Anarchische Revolution statt Kastagnettengeklapper

Warum sind die Toten nicht tot? Es ist wohl kein Zufall, dass der Haupttitel an bekannte Kinowerke wie Jim Jarmuschs Horror-Persiflage „The Dead don’t die“ erinnert. Nicht selten werden Randgruppen wie schwer Drogenkranke oder illegale Einwanderer umgangssprachlich mit Zombies oder Gespenstern, also Untoten, verglichen. Genau darum geht es in der ästhetisch-politischen Spurensuche: um Minderheiten, die der offizielle Diskurs der Mehrheitsgesellschaft durch Ausgrenzung und Missachtung gern für tot erklärt. Obwohl die Betroffenen noch höchst lebendig sind. Letzteres bringen sie mitunter auch deutlich zum Ausdruck.

Der Flamenco jedenfalls entstand im 19. Jahrhundert als wütend-lauter Protestgesang, mit dem die südspanischen Roma ihre eigene Unterdrückung in die Welt hinausschrien. Während Andalusiens Tourismusmarketing dieses kulturelle Erbe hoffnungslos verkitscht hat, legen die WKV-Gastkuratoren Pedro G. Romero und Maria Garcia die anarchisch-rebellischen Wurzeln des populären Tanz- und Gesangstils frei. Jenseits von Kastagnettengeklapper, Rüschenrock und Ay-ay-ay.

Regionaler Bezug durch Stuttgarter „Vagabundenkongress“

Eine Grafik aus dem Jahr 1847 zeigt die wahre Geburtsstätte des Flamencos, die Asamblea General andalusischer Romagemeinden. Prägend für diese Zusammenkünfte war eine subversive Fest- und Musikpraxis, die Adel, Klerus und Großbürgertum genussvoll verhöhnte. Die Tradition der Roma, Spaniens spätfeudalem Herrschaftssystem einen karnevalistischen Spiegel vorzuhalten, färbte sogar auf den größten Künstler der Zeit ab. In seinem späten Zyklus „Los Disparates“, wörtlich „Torheiten“ oder „Unsinn“, beschwört Francisco de Goya finstere Fratzentänze von Gauklern und anderem fahrenden Volk.

Auch die pornografische Adelssatire „Die Bourbonen auf dem Ball“ von Valeriano und Gustavo Adolfo Bécquer (um 1868) übernimmt den deftigen Oppositionsgeist der sozial marginalisierten „Gitanos“. So verpasst eine hüllenlose Tänzerin einem sichtlich erregten Höfling einen schwungvollen Tritt in die Genitalien.

In ihren historischen Teilen ist die Schau sehr erhellend, zumal auch deutsche Künstler wie der Expressionist Otto Pankok bei Sinti und Roma Inspiration fanden. Regionale Bezüge ergeben sich im Württembergischen Kunstverein außerdem durch die dokumentarische Erinnerung an den Stuttgarter „Vagabundenkongress“ von 1929. Ausgerechnet in der sauberen Schwabenmetropole wurde seinerzeit das Landstreichertum zum politischen Protestformat ausgerufen!

Getrübter Blick auf eigene Quintessenz

Als zähflüssiger erweist sich der Rundgang durch den Vierecksaal des Württembergischen Kunstvereins aber, wenn neuere Positionen zum Zuge kommen. Teresa Lancetas Wald aus Teppichen, in die autobiografische Botschaften der Künstlerin eingewebt sind, trägt relativ wenig zum Thema bei. Die digitale Diashow über die genderkritischen Interventionen des Künstlers Ocaña beim Internationalen Anarchistenkongress 1977 hätte man sich ebenfalls pointierter gewünscht. Nicht zuletzt das Künstlerduo Stalker/Osservatorio Nomade mündet bei seinen filmischen Streifzügen durch Migrantensiedlungen in dröger soziologischer Feldforschung.

Damit trübt die Präsentationsreihe den Blick auf die eigene Quintessenz: Politischer Protest, wenn er gehört werden will, muss Feuer haben, sinnlich sein und die Bitternis der eigenen Klagen ins Allgemeingültige verwandeln – wie der Flamenco.

Info

Pedro G. Romero
Als Multitalent zwischen bildender Kunst, Tanz und Ästhetiktheorie war der 56-Jährige, der in Sevilla und Barcelona lebt, mehrfach an WKV-Projekten beteiligt. Neben Ursprung und Rezeption des Flamencos beschäftigen den Künstlerkurator antiklerikale Bilderstürme im spanischen Bürgerkrieg. Er nahm an der letzten Documenta teil und vertrat Katalonien bei der Biennale in Venedig.

Maria Garcia
Auch Garcia arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Gesellschaft. Die 1981 geborene Künstlerin und Architektin war Forschungsstipendiatin am Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid. Mit Romero untersuchte sie etwa die Wohnkultur der Roma. Werke Garcias wurden zuletzt von der Wiener Secession sowie dem Kunstzentrum Fabra i Coats in Barcelona präsentiert.

Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Mittwoch bis 20 Uhr. Die Schau am Schlossplatz 2 läuft bis 17. Januar.