Christian Wulff glaubt immer noch, dass er nicht viel falsch gemacht hat. Nun muss die Kanzlerin ihre politische Suppe auslöffeln.

Berlin - Im Foyer des Bundespräsidialamts findet sich eine Art Ahnengalerie: kleine Nischen mit den Bronzeköpfen der bisherigen Amtsinhaber. Neben dem Abguss von Johannes Rau klafft eine Lücke in der weißen Wand. Dort fehlt das Konterfei von Horst Köhler. Demnächst wird noch ein weiteres Loch in die Mauer gemeißelt werden müssen für eine Büste des in diesem Moment noch amtierenden Hausherrn.

 

Seit Wochen war zu vermuten, dass dessen Residenzzeit im preußischen Schloss Bellevue rasch beendet sein könnte. Der Rücktritt kündigt sich um 8.49 Uhr an. Da lässt Christian Wulff eine Einladung verschicken, sechs Zeilen, die für Punkt elf eine Erklärung in Aussicht stellt. Im großen Saal des Präsidentenpalais ist zwischen zwei Kronleuchtern, die den Umfang stattlicher Blumenrabatten haben, ein Pult aufgebaut. Dahinter hängt schlaff die Standarte des Staatsoberhaupts. Das Rednerpult ist auf einem niederen Podest postiert, auf dem auch Platz für eine weitere Person ist. Christian Wulff und seine Frau Bettina besteigen es um 11.02 Uhr – ein letzter Akt der Überhöhung, zugleich die finale Diensthandlung dieses Präsidenten.

Wulff beginnt seine Erklärung, die nicht länger als fünf Minuten dauert, als ob er einen Nachruf verlesen würde, ein Nachruf in eigener Sache. Er spricht von dem „Herzensanliegen, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken“ und von Vertrauen, das inzwischen „nachhaltig beeinträchtigt“ sei. Das Land brauche aber einen Präsidenten, der Vertrauen „nicht nur einer Mehrheit, sondern einer breiten Mehrheit“ genieße. Das sei ihm nicht mehr vergönnt. Deshalb trete er zurück. „Ich habe Fehler gemacht“ – vier Worte nur. Mehr an Einsicht ist von ihm nicht zu hören. Im Gegenteil, er habe sich „immer aufrichtig“ verhalten, sagt der Präsident, der es da eigentlich schon nicht mehr ist.

Sein Verständnis von Aufrichtigkeit haben andere als taktischen Umgang mit der Wahrheit gedeutet. Scheibchenweise hat er in den vergangenen Wochen Unregelmäßigkeiten immer erst dann eingeräumt, wenn sie nicht mehr zu leugnen waren.

Merkel fällt der Auftritt schwer

Eine halbe Stunde nach Wulff tritt Kanzlerin Angela Merkel vor die Presse. In zwei Minuten sagt sie, was ihr jetzt angebracht erscheint. Es fällt schwer, hinter der kühlen Fassade eine Regung zu erkennen, die ihre Gemütslage widerspiegelt. Wulffs Rücktritt habe sie mit „größtem Respekt und auch mit tiefem Bedauern zur Kenntnis genommen“. Er habe in seiner kurzen Amtszeit wichtige Impulse setzen können. Er habe Deutschland, quasi als Vermächtnis, seine Vision von einem Land der Vielfalt hinterlassen. Es sei aber die „Stärke unseres Rechtsstaates, dass er jeden gleichbehandelt, egal welche Stellung er einnimmt“. Zu den Vorwürfen äußert sie sich nicht. Das ist jetzt Sache der Staatsanwaltschaft. Angela Merkel hat auch so genug zu tun.

Eigentlich muss die Kanzlerin den Euro retten. Deshalb war sie auch schon auf halbem Weg nach Italien, zu Gesprächen mit Präsident Giorgio Napolitano und Ministerpräsident Mario Monti. Den Besuch musste sie wegen des Statements absagen. Für sie ist das ein schwerer Gang, denn Wulff war ihr Kandidat, sie hat ihn gegen Widerstände und Zweifel in der Koalition durchgekämpft. Er, der versierte Machtpolitiker, sollte ihr ein zuverlässigerer Begleiter sein, als es der zuletzt unberechenbare, bürgernahe Horst Köhler gewesen war. Wochenlang hat sie gezögert, sich von Wulff abzuwenden. Auch weil sie nicht sicher sein konnte, ob er wirklich ginge, wenn sie ihm das Vertrauen entzöge.

Wulffs Scheitern beginnt schon bei der Wahl

Wulffs Präsidentschaft stand von Beginn an unter einem schlechten Stern. Der Niedersachse galt sein Leben lang als Hoffnungsträger. In dem Moment, als Merkel ihn zum Kandidaten für das höchste Staatsamt kürte, waren diese Hoffnungen zerstoben. Die Sympathien vieler Bürger und Medien galten dem Konkurrenten Joachim Gauck, den der „Spiegel“ vorab als „besseren Präsidenten“ titulierte. Drei Anläufe benötigte Wulff, um in der Bundesversammlung die nötige Mehrheit zu erreichen. Gegen den Publikumsliebling Gauck erschien seine verpatzte Wahl wie der Sieg eines Sachwalters der politischen Klasse über einen, der Sand in ihrem Getriebe gewesen wäre. Nun erweist sich, dass der Präsident Wulff der politischen Klasse noch mehr geschadet hat.

Kaum war Wulff von Hannover ins Schloss Bellevue umgezogen, da flog er mit der First Lady nach Mallorca ins Luxusdomizil des Unternehmerfreundes Maschmeyer. Dieser Fauxpas deutete schon an, was Wulffs größtes Problem sein könnte. Was von seiner Zeit als Präsident bleiben wird außer der Erinnerung an ein undurchschaubares Dickicht von Affären, ist vielleicht nur ein einziger Satz: jener Satz in seiner ersten großen Rede, mit dem er den Islam in Deutschland eingemeindet hat. Auch dieser Satz entfachte mächtigen Gegenwind, gerade aus den eigenen Reihen. Aber Wulffs Karriere hatte sich in ständigem Gegenwind geformt. Das erklärt vielleicht den Durchhaltewillen, der letztlich nur noch wie Sturheit erschien.

Die Medienschelte lenkt vom eigentlichen Problem ab

Man kann verstehen, dass sich Wulff von den ihm nachstellenden Journalisten verletzt fühlte, auch wenn er bisher nur wenige Vorwürfe widerlegen konnte. Aber auch wenn er sich gerne als Medienopfer inszeniert hätte, so war die enthemmte Jagdlust einzelner Journalisten am Ende gewiss nicht sein größtes Problem. Denn er konnte nirgendwo mehr unbefangen auftreten. Kein öffentlicher Platz war für ihn eine geschützte Zone. Auf Staatsbesuch in Italien hat er es diese Woche versucht, da wollte er Normalität erzwingen. Aber es ging nicht mehr. Kaum eine Antwort, die er unbefangen geben konnte, bei der er nicht auf den Hintersinn seiner Worte achten musste. Als er in Rom neben dem italienischen Staatspräsidenten Napolitano stand, lief zunächst alles gut, bis die zwei Präsidenten gefragt wurden, wie der Korruptionsschutz in beiden Ländern zu verbessern sei. Was sollte er da noch sagen? In der Mailänder Wirtschaftsuniversität Bocconi fragte ihn ein Student, was einen guten Politiker auszeichne? Wieder musste sich Wulff auf einer schiefen Ebene fühlen.

Man weiß nicht, ob irgendwann in einem stillen Moment auch in Christian Wulff die Frage zu arbeiten begann, wie er überhaupt noch auftreten, Reden halten, wichtige Themen ansprechen sollte. Vielleicht war es am Sonntagabend so, kurz vor der Abreise nach Italien. Wulff hatte zur Berlinale das Filmvolk zu einem Empfang geladen. Schon Tage vorher wurde in deren Kreisen eine Frage debattiert: zusagen oder absagen? Am Abend dann gespenstische Szenen im Schloss. Zögerlich fahren Limousinen vors Portal. Kaum einer, der aussteigt, dreht sich zu den Fotografen um. Lieber keine Bilder von dieser Nähe zum Präsidenten. Oben im großen Saal werden es am Ende kaum hundert Gäste.

Wulffs Mitarbeiter sind derart in der Defensive, dass Journalisten sich nicht frei im Raum bewegen dürfen, um mit Gästen zu sprechen. Sogar die Zahl der Eingeladenen wird zum Staatsgeheimnis. Wer fehlt, das lässt sich allerdings nicht verbergen: praktisch der gesamte deutsche Film. Wulff betritt schließlich den Raum, graugesichtig, steifbeinig, allein. Seine Rede gerät zu einer Reihung von Plattitüden übers Kino – nach den Berichten über die Gefälligkeiten des Filmfinanziers David Groenewold bewegt er sich auch hier auf verbal vermintem Gelände.

Seine Frau bleibt an seiner Seite

Während Christian Wulff seinen Rücktritt verkündet, steht neben ihm mit ernstem Blick seine zweite Frau Bettina. Wulff bedankt sich – genau wie später die Kanzlerin – sehr ausdrücklich bei ihr. Er nennt sie die „Repräsentantin eines modernen Deutschland“. Was damit genau gemeint ist, bleibt offen. Tatsächlich ist die große, blonde Frau mit den Kinderaugen vor allem ein Teil der öffentlichen Figur Wulff: sie hat Anteil an seinem Erfolg und auch an seinem Absturz. Der biedere Herr Wulff, verheiratet, katholisch, ein Kind, verliebte sich in die alleinerziehende Mutter und PR-Frau und verließ seine Familie. Das war riskant für den Ruf des konservativen Politikers. Aber es gelang beiden, aus dieser Lebenswende die bestmögliche Außenwirkung herauszuholen. Die neue Beziehung ließ den Mann, der bisher immer so korrekt gewirkt hatte, besser aussehen: menschlicher, weil fehlbar, moderner, jünger, fast glamourös. Im Wahlkampf ums Präsidentenamt präsentierte sich Wulff als Vater einer Patchworkfamilie, der die Lebenswirklichkeit vieler Familien versteht. Im Amt gab Bettina Wulff ihrem Mann dann einen schönen Schimmer, wirkte immer freundlich, sympathisch, einnehmend.

Aber auch fast all die Fehler, die Wulff nun den Verbleib im Amt unmöglich machten, diese Einladungen in die Welt der Reichen und Schönen fallen ebenfalls in die neue Lebensphase mit Bettina Wulff. Der Glamour wurde zum Teil des Images.