„Wunderheiler“ im Alten Schauspielhaus Eine Todkranke und hitzige Familiendiskussionen

Die liebe Familie und ihre Meinungsverschiedenheiten: das Ensemble von „Wunderheiler“ Foto: Tobias Metz

In Stuttgart sind Anthroposophie und Protestkultur zuhause. Da passt es, dass Lutz Hübner und Sarah Nemitz ihr neues Stück „Wunderheiler“ in Stuttgart ansiedeln. Am Alten Schauspielhaus hat es Uraufführung gefeiert.

Mit einer Aortenstenose ist nicht zu scherzen. Bei diesem Herzklappenfehler fließt das Blut nicht nur in eine Richtung des Körperkreislaufes; es kommt zu einem teilweisen Rückfluss in die linke Herzkammer. Bei der Stuttgarter Unternehmerin Claudia zeigen sich die ernsten Effekte der dadurch entstehenden Organüberlastung: Kurzatmigkeit, schnelle Ermüdung, Zittern, Schlafprobleme.

 

Axel Preuß führt Regie

Claudia (Ursula Berlinghof) ist eigentlich keine Frau, die sich wie ein Käfer auf den Rücken legt, um ihr Schicksal zu erwarten. Ob eine riskante Operation das Richtige wäre, um ihr Leben zu retten, kann sie trotzdem nicht für sich selbst entscheiden, weshalb sie den Rat ihrer zerstrittenen Kinder einberuft. Eine etwas unglaubwürdige Prämisse, die das berühmte Dramatikerpaar Lutz Hübner und Sarah Nemitz für sein neues, am Alten Schauspielhaus Stuttgart in der Regie des Intendanten Axel Preuß uraufgeführtes Drama „Wunderheiler“ gewählt hat. Denn eigentlich traut man der distinguierten älteren Dame sehr wohl zu, Risiken gegen Nutzen der OP abwägen zu können. Doch Hübner und Nemitz brauchen diesen existenziellen Zweifel, um die Kinder der Todkranken in eine hitzige Diskussion zu verwickeln.

Eine tödliche Impfung

Da ist Sebastian (Antonio Lallo), Anhänger der Anthroposophie, verheiratet mit der Heilerin Katrin (Lisa Wildmann), die von einem Heilzentrum und Mehrgenerationenhaus träumt, für das sie noch Investoren braucht. Das Paar hat sich während der Corona-Pandemie mit Sebastians Schwester Clara (Barbro Viefhaus) und deren Mann Jonas (Frederik Leberle) entzweit. Sebastian und Katrin geben den beiden die Schuld am Tod von Claudias Mann, der nach einer Impfung starb, zu der Clara ihrem Vater geraten hatte. Die alleinerziehende Laura (Bianca Spiegel) ist ein klassisches „Sandwich-Kind“, wenig beachtet von den Geschwistern, auch noch als Erwachsene. Auch Lauras Tochter Emilia (Marie Schröder) ist von ihrer Mutter entfremdet, dafür kümmert sie sich liebevoll um die Oma und versucht, als jugendlicher Salomon zwischen den Parteien zu vermitteln.

Claudia ist krank, ihre Schwiegertochter Katrin ist eine Heilerin: Ursula Berlinghof (li.), Lisa Wildmann in „Wunderheiler“ Foto: Tobias Metz

Dass Lutz Hübner und Sarah Nemitz ihren Plot in Stuttgart verorten, kommt nicht von ungefähr. Hier entstand die erste Waldorf-Schule nach den Lehren Rudolf Steiners, Begriffe wie „Wutbürger“ und „Querdenker“ sind deutschlandweit mit der hier ansässigen Protestkultur verbunden. Das Stück selbst ist in einem offenen Raum aus drei hinter einander gestaffelten Portalen angesiedelt, karg möbliert mit fünf Sesseln. Für die Ortswechsel aus der Lobby des Hotels, wo die Kinder untergebracht sind, zum Foyer von Claudias Villa schwebt entweder ein Bündel schwarz-goldener Lampenschirme oder ein opulenter Kronleuchter aus dem Bühnenhimmel.

Die Reduktion ist gut durchdacht; Axel Preuß konzentriert sich auf Figuren und Positionen, die einerseits schablonenhaft typisch sind, andererseits alltägliche Beobachtungen reflektieren. Die Heilerin Katrin, die mit fast penetrantem Missionarsgeist die Schwiegermutter für sich einzunehmen versucht, ist genauso in der Realität verankert wie die Figur der Rationalistin Clara, die sich und ihren Gatten mit Dienstleister-Mentalität über die Bedürfnisse der Geschwister stellt, im Glauben, sie wüssten, was das Beste für die Mutter sei.

Lehrstück über Fragen unserer Zeit

Antonio Lallo gibt Sebastian als liebenswerten wie schwer verliebten Schluff in Katrins Bann, ihm gegenüber agiert Frederik Leberles Jonas mit aalglattem Pragmatismus, weder intellektuell noch empfindsam, aber durchaus freundlich. Die Dialoge sind nicht tiefschürfend, dafür von Wahrheiten und wohl dosiertem, trockenem Humor durchzogen. Trotz mancher Längen und Klischees, die sich angesichts des Themas kaum vermeiden lassen, erweckt Axel Preuß mit seinem emotional engagierten Ensemble die Diskussion zum Leben. Die Klimax mit Schreiorgie und tätlichem Angriff ist ein bisschen zu viel des Guten, aber auch das kommt in den besten Familien vor. Letztlich liefern Hübner und Nemitz in Preuß’ geradliniger Regie das, wofür sie schon ausgezeichnet wurden: ein nachdenklich stimmendes, für ein breites Publikum geschriebenes Lehrstück über Fragen unserer Zeit.

Wunderheiler: Termine bis 7. Juni. Infos unter: www.schauspielbuehnen.de.

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