Die Uraufführung von „Wunderzaichen“ an der Staatsoper Stuttgart ging – wie so oft beim zeitgenössischen Musiktheater – einher mit heftigen Auflösungstendenzen aller Konventionen.

Stuttgart - Das muss der Staatsoper Stuttgart erst mal ein Haus nachmachen, von fünf Neuinszenierungen in der Saison sind zwei Auftragswerke. Uraufführungen sind ein starkes Signal, Oper nicht als museale Institution zu betrachten, und Ausdruck von Zeitgenossenschaft. Das kennzeichnet die Intendanz von Jossi Wieler, der jetzt selbst die Regie – wie immer mit Sergio Morabito – bei der Premiere am Sonntag übernommen hat. Nach Richard Ayres Familienoper „Peter Pan“ im November nun das alles in allem doch ambitioniertere und, was die beteiligten Künstler betrifft, gewichtigere Werk: „Wunderzaichen“ von Mark Andre. Das Libretto hat der 49-jährige in Paris geborene Komponist mit dem Stuttgarter Dramaturgen Patrick Hahn unter Einbeziehung von Texten aus der Bibel, der jüdischen Mystik, des französischen Philosophen Jean-Luc Nancey und von Johannes Reuchlin (1455 bis 1522) verfasst.

 

Der in Pforzheim geborene Humanist Reuchlin, ein Universalgelehrter avant la lettre, ist die einfach Johannes genannte Hauptfigur dieses ausdrücklich als Oper bezeichneten Musiktheaters. Für Jossi Wieler ist es eine „metaphysische Reise“ – genauso wohl eine für den Zuschauer wie für die Opernfigur Johannes. Das knapp zweistündige, pausenlose Werk gliedert sich in vier „Stationen“. In vier Stadien, an vier Transformationpunkten sehen wir Johannes ins Heute geworfen. Konkret in den Transitbereich des Flughafens Ben Gurion in Tel Aviv. Anna Viebrock hat erneut einen ihrer ingeniösen, geheimnisvoll-verstörenden Räume entworfen, in dem das penibel abgeschaute Reale irreal wirkt.

Nach seiner Ankunft wird Johannes die Einreise verweigert, beim Polizeiverhör begegnet er einer Frau Namens Maria, geht mit ihr essen und stirbt, dabei seinen Tod selbst beschreibend. Im letzten Bild sehen wir ihn, die Pilger und Touristen in einem anderen Zustand, aus dem Polizisten ist ein Erzengel geworden, der zum Schluss flüstert: „Eine Trennung des Endlichen durch das Unendliche“, ein letzter Crescendo-Riss und dann ein langes Nachhallen. Mark Andre hat ein Bühnenwerk komponiert, das in sich selbst Auflösungstendenzen aller Opernkonventionen eingeschlossen hat. In den beiden letzten Bildern vor allem ist das eine Musik, die sich in sich selbst zurückzieht, sich mithilfe elektronischer Nachhallwirkungen selbst nachlauscht: leise, hauchend, verlöschend. Sinnfällig für diese Ästhetik scheint es da, dass die Hauptfigur als Sprechpartie für einen Schauspieler konzipiert ist – in cognacfarbener Cordhose, Tweedjackett über der dunkelgrünen Strickjacke verleiht André Jung dem Johannes eindringlich Gestalt, auch wenn er durch die Vorherrschaft der orchestralen Klänge als Charakter schablonenhaft, ja beinahe kühl bleiben muss. Verständnis, Empathie kommt für ihn kaum auf – was nicht aufs Konto der feinnervigen, detaillierten Inszenierung geht.

Riesenbeifall für die großartige Einstudierungs- und Aufführungsleistung von Chor und Orchester der Württembergischen Staatstheater, den Mitgliedern des Experimentalstudios des SWR unter der Leitung des Generalmusikdirektors Sylvain Cambreling und dem Solistenensemble: dem schauspielerisch beeindruckenden, vokal unterforderten Matthias Klink in den Rollen als Polizist, Oberkellner und als Erzengel; Claudia Barainsky als Hippie-Maria, die rothaarzauselig und in Wallekleid Johannes nicht erlösen kann, meist helle Stratosphärentöne in den Raum sendend; Kora Pavelić und Maria Theresa Ullrich als Beamtinnen. Auch der Komponist Mark Andre wurde in die Bravorufe eingeschlossen.

Vorstellungen: 7., 16., 22., 25. März