Die Schulden haben ein Ausmaß erreicht, das jedes Vorstellungsvermögen übersteigt. Das berührt den Kern unseres Wohlstandsmodells.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Schulden sind so alt wie die Menschheit. Sie befeuern Revolutionen und die großen Stoffe der Literatur. Die Geschichte kennt großartige Verschwender, nervöse Spieler und biedere Kaufleute, die von den Zeitläuften in den Ruin getrieben werden. Heute geben die Verbindlichkeitstechnokraten den Ton an. Sie spielen nicht, sondern verteilen den schuldenfinanzierten Wohlstand um. Zu Gunsten von Eltern, sozial Schwachen, Unternehmen, Autofahrern und tausend anderen Gruppen oder Körperschaften. Verschuldung diene allen, wird eilfertig versichert, sie sei eine egalitäre Wohlstandsmaschine.

 

Seit der Schuldenkrise sind derlei Beteuerungen fragwürdig geworden. Der amerikanische Anthropologe David Graeber stellt in seinem Buch "Debt" (Schulden) einen zentralen Widerspruch fest: Fast alle sind der Meinung, dass man geliehenes Geld zurückzahlen muss. Gleichzeitig gilt jemand, der Geld verleiht, als böse. Das Haus des Wucherers in Brand zu setzen findet johlende Zustimmung. Die Banken haben ihre Paläste bereits selbst entzündet. Sie brennen lichterloh, während die Politik mit emsiger Verbissenheit Rettungsschirme aufspannt - mit Geld, das sie nicht hat. Man stützt die Geldverleiher und lässt kleine Schuldner wie die Immobilienkäufer in den USA mitleidlos fallen.

Vom Wachstumsgedanken geleitet

Kaum jemand hält das für moralisch gerechtfertigt. Auf dem Weg zwischen dem Wunsch nach Wohlstand und der rasenden Gier nach spekulativen Gewinnen ist der Gedanke verloren gegangen, dass wer Schulden aufnimmt - eine Verpflichtung eingeht -, jemandem etwas schuldet. Privatmenschen und Unternehmer kennen diese Verpflichtung. Der Staat hat es leichter: Er bürdet die Tilgung nachfolgenden Generationen auf.

Alle lassen sich vom Wachstumsgedanken leiten. Wachstum, so die Idee, macht die Menschen über ein Mehr an Wohlstand und Konsum glücklich und wird deshalb zu Recht über Schulden finanziert. Für den "Wirtschaftsweisen" Peter Bofinger war das nie ein Problem. Für Bofinger ist nicht der absolute Schuldenstand entscheidend, sondern die Schuldenstandsquote. Diese steht in Bezug zur Wirtschaftskraft eines Staates. Eine stark wachsende Volkswirtschaft kann mehr Kredite aufnehmen. Auch Gert G. Wagner, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, betont, Deutschland lebe nicht über seine Verhältnisse. Die gesamte Staatsverschuldung betrage zwar 80 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Aber solange man die Zinsen aufbringen könne, sei damit zu leben.

Durch Gewalt am Leben erhalten

Dummerweise können Zinsen zum strangulierenden Strick werden. Dieses Problem hat schon früher radikale Theoretiker umgetrieben. Gottfried Feder gründete 1919 den Deutschen Kampfbund zur Brechung der Zinsknechtschaft. Seine Argumente wurden von den Nazis aufgegriffen, um jüdische Mitbürger aus dem öffentlichen Leben zu drängen. Was die Gefahr illustriert, unser leichtfertiges Wirtschaften könnte, wenn es an seine Grenzen kommt, radikalen Gedanken ein Einfallstor öffnen.

David Graeber dagegen will das schuldenfinanzierte und zerstörerische Wachstum durch ein System des Wohlbefindens, ja der "Liebe" ersetzen. Das bestehende bankrotte System verwandle Liebe in Schulden - es könne nur durch Gewalt am Leben erhalten werden, schreibt Graeber. Er fordert eine Abkehr von der Maxime, Wachstum über Schulden zu erzeugen, und von diesem Wachstum wiederum die Schulden zu begleichen. Stattdessen solle man fragen: Schulden wir uns selbst, unseren Nachkommen, der Umwelt nicht etwas ganz anderes? Ein Leben in Wohlstand, der nicht die Umwelt belastet, eine Zufriedenheit durch die Balance zwischen Arbeit und Privatem?

Kreditvergabe der Banken zügeln

Als ersten Schritt, den Wachstumszwang und damit die Schuldensystematik zu mildern, schlägt der Ökonom Hans Christoph Binswanger vor, Aktiengesellschaften in Stiftungen zu verwandeln. Eine Stiftung könne auf ein Ziel ausgerichtet werden, beispielsweise auf die Bereitstellung bestimmter Güter. Sie muss alle Kosten einspielen, die zur Produktion notwendig sind, aber sie muss keine hohen Renditen erwirtschaften. Außerdem müsste die Kreditvergabe der Banken gezügelt werden. Je mehr Kredite sie ausgeben, desto mehr Geld gebe es auf der Welt, so Binswanger. Und je mehr Geld es gebe, desto stärker müsse die Wirtschaft wachsen. Oder sie breche zusammen. Er fordert, den Zentralbanken die Kontrolle über das im Umlauf befindliche Geld zu geben. Die Geschäftsbanken würden die Girokonten nur noch verwalten.

Einen anderen Weg gehen die Erfinder des Chiemgauers. Das ist eine Währung, die in der Region bei Menschen und Unternehmen gilt, die ihn als Zahlungsmittel akzeptieren. Der Chiemgauer hat ein Verfallsdatum. Scheine, die länger als drei Jahre gehalten werden, sind ungültig. Durch diesen eingeplanten Wertverlust soll das Geld stetig im Umlauf bleiben: Der "Rubel soll rollen". Solches Geld zu verleihen - gegen Zinsen - lohnt sich nicht.

Möglicherweise zwingen uns die aktuellen Verwerfungen zum Abschied von der Schuldenwirtschaft. Die Alternative könnte eine glückliche Stagnation sein, in der die Menschen Zeit für Familie, lieb gewordene Dinge oder auch nur eine Reparatur im Haushalt haben und sich und ihre Umwelt nicht mehr in selbstmörderischer Weise belasten. Doch in den Etagen der Investmentbanken, aber auch in den Regierungssitzen fällt der Abschied vom virtuellen Geldspeicher schwer. Zu verführerisch ist es, die Schuld der Verschwendung der Allgemeinheit oder den Nachkommen unterzujubeln. So könnten die Bankrotteure am Ende triumphieren - was volkswirtschaftlichen Ruin, aber wenigstens literarischen Reichtum verspräche.


Vordenker: Hans Christoph Binswanger gilt als Grandseigneur der nicht-marxistischen Kapitalismuskritik. Der emeritierte Professor an der Universität Sankt Gallen entwickelte die Idee einer ökologischen Steuerreform. Mit dem Buch „Geld und Magie“ schrieb der 82-Jährige einen modernen Klassiker. Er ist Doktorvater von Joseph Ackermann.

Anarchist: David Graeber lehrt am Goldsmiths-College in London. Sein im Juli erschienenes Buch „Debt. The first 5000 Years“ erscheint im Frühjahr bei Klett Cotta. Graeber ist Mitglied der anarchistischen Gewerkschaft Industrial Workers of the World. Er nahm an den Protesten des World Economic Forum in New York im Jahr 2002 teil.

Insider: Michael Lewis schrieb 2010 mit „The Big Short“ einen Bestseller über die Finanzkrise. Darin schildert er die Hintergründe der Immobilienkrise und den Zusammenbruch der Lehman-Bank. Lewis arbeitete drei Jahre für die Investmentbank Salomon Brothers und kennt die Branche von innen. Er arbeitet als Journalist.