„Nai hämmer gsait!“ – mit dem erfolgreichen Kampf gegen das Kernkraftwerk am Oberrhein begann 1975 der Atomkonsens zu bröckeln. Heute erinnert nur noch ein Findling an die Proteste.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Wyhl - War es hier? Oder hier? Der Rheinwald gibt sein Geheimnis nicht mehr preis und steht grün und dicht. Eigentlich sollten hier zwei riesige Kühltürme aus Beton stehen, 150 Meter hoch, höher als das Freiburger Münster. Doch nur Platanen und Eschen ragen nach oben.

 

Der Rheinwald bei Wyhl – gesprochen: Wiihl – im Landkreis Emmendingen, acht Kilometer westlich von der Autobahn 5 und vier Kilometer nördlich des Kaiserstuhls, war vor 40 Jahren dazu auserkoren, Standort eines Kernkraftwerks zu werden. Der Bau von Fessenheim auf französischer Seite, 20 Kilometer rheinaufwärts, war bereits genehmigt. Wie eine Perlenkette sollten Reaktoren den Rhein säumen und Strom für ein „Ruhrgebiet am Oberrhein“ liefern, „die Wirtschaftsachse überhaupt“ in Europa, orakelte der „Staatsanzeiger“ am 23. September 1972.

Eine Zäsur für das deutsche Atomprogramm

Gebaut wurde letztlich nur Fessenheim, der Kampf um das Kernkraftwerk Wyhl wurde zur Zäsur für das deutsche Atomprogramm. Eine Massenbewegung zwang eine Landesregierung und das übermächtig erscheinende Badenwerk (heute EnBW) in die Knie. Das Baugelände im Wyhler Wald gehört nach wie vor der EnBW, es ist heute Naturschutzgebiet. In der Nähe der „Nato-Rampe“, an der Stelle, wo Amphibienpanzer „im Ernstfall“ die auf deutschem Boden stationierten französischen Truppen über den Rhein setzen sollten, wurde Geschichte geschrieben. An der „Nato-Rampe“ fanden die großen Demonstrationen statt. Der erste Platz wurde aber auf der anderen Rheinseite besetzt, in Marckolsheim, wo eine deutsche Bleifabrik errichtet werden sollte. So wurde die neue Protestbewegung zu einer noch nicht da gewesenen deutsch-französischen „Wacht am Rhein“. Die Kommunikation war denkbar einfach, badische Kaiserstühler und französische Elsässer sprechen die gleiche alemannische Mundart. Liedermacher und Schriftsteller wie „Buki“ und André Weckmann gaben der Region im Protest ihre ureigene Sprache zurück.

An der „Nato-Rampe“ bei Wyhl versammelten sich am 23. Februar 1975 fast 30 000 Menschen. Mit Zorn im Bauch, denn drei Tage hatte zuvor die Staatsmacht in bisher nicht gekannter Manier zugeschlagen: Nachdem die Betreiber Badenwerk und Energieversorgung Schwaben am 17. Februar 1975 begonnen hatten, Bäume zu fällen, protestierten dagegen zunächst vor allem Landfrauen, denn die Männer schnitten gerade die Reben. Aus der Demonstration entstand die erste Platzbesetzung, die das Ende der Rodungsarbeiten erzwang.

Junge Polizisten zerrten gestandene Bäuerinnen vom Platz

Die Landesregierung um Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) ließ am 20. Februar den Platz räumen. An Haaren und Kleidern zerrten junge Polizisten gestandene Bäuerinnen vom Platz, es kamen Wasserwerfer zum Einsatz. Verhaftet wurden aber fast nur Freiburger Studenten, damit wollte man eine angebliche „Fernsteuerung“ beweisen. Der rabiate Einsatz und die Absperrung des Baugeländes mit Stacheldraht, das Auffahren der Wasserwerfer – all das machte die braven Kaiserstühler erst recht zornig und trotzig.

„Es war genau die richtige Mischung“, erinnert sich Axel Mayer, damals Azubi, heute Geschäftsführer beim Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) in Südbaden. „Nicht zu viele Linke, aber auch nicht zu wenige. Nicht zu wenige Bauern, aber genug.“ Am Abend nach der Kundgebung am 23. Februar 1975 war der Bauplatz im Wyhler Wald wieder besetzt. Das kam nicht von ungefähr, denn die Tatkräftigsten in den Bürgerinitiativen hatten sich darauf vorbereitet. Der Platz blieb Tag und Nacht besetzt, neun Monate lang. Es entstand ein kleines Dorf, die Feuerwehren, Gesangs- und Musikvereine sorgten für Logistik und Verpflegung. Die Platzbesetzer wurden von der Landesregierung als „Radikale“ beschimpft, der Ministerpräsident drohte, ohne Wyhl würden bald die Lichter ausgehen. Zunächst jedoch gingen am Kaiserstuhl der CDU die Mitglieder und Ortsvereine en masse verloren.

Die CDU-Landesregierung wagte keinen erneuten Polizeieinsatz

Vorübergehend stoppte das Verwaltungsgericht Freiburg im März 1975 die Bauarbeiten, das Verwaltungsgerichtshof Mannheim gab den Bauherren im Oktober wieder grünes Licht, doch die CDU-Landesregierung wagte keinen neuen Polizeieinsatz. Die Platzbesetzer hatten einen Sommer Zeit, um Geschichte zu schreiben. Nicht nur ihre Losungen („Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv“), auch ihre Aktionsformen wurden stilbildend für spätere Bewegungen. Im „Freundschaftshaus“ auf dem besetzten Platz wurde die „Volkshochschule Wyhler Wald“ aus der Taufe gehoben. Dort referierten selbst noch lernende Experten über Gefahren der Kernspaltung und über alternative Energiegewinnung. Viele von ihnen sitzen heute in  Ökoinstituten oder geben Gutachten bei Reaktorsicherheitskommissionen oder Bundesumweltministern ab.

Nur in Wyhl wurde ein geplantes deutsches Kernkraftwerk verhindert, maßgeblich war eine ungewöhnlich breite Volksbewegung, die von grundsätzlichen und Standortgegnern, von Bauern, Winzern, Pfarrern, Apothekern, Arbeitern und Studenten gleichermaßen getragen wurde. Die Arroganz der Macht und ein penetrant selbstgerechter Landesvater brachten mehr Menschen auf die Beine als jede linksradikale Propaganda. Filbinger stürzte über seine NS-Vergangenheit, und obwohl der VGH in Mannheim den Weiterbau Ende 1982 erlaubt hatte, begrub „Cleverle“ Lothar Späth das Kernkraftwerk in Wyhl ein Jahr später politisch.

Wyhl als Wiege der grünen Partei

Die Folgen der „Schlacht um Wyhl“ wirken bis heute nach. Es war die Wiege der Grünen Partei, nicht umsonst ist Südbaden und besonders Freiburg bei Wahlen „grüner“ als anderswo. In Wyhl begann sich die Stimmung zu drehen, der Ausstieg aus der Kernenergie nach den leidvollen Erfahrungen von Tschernobyl und Fukushima hat dort begonnen. Auch vor Ort ist nichts vergessen. Nicht in Wyhl, das damals tief in Pro und Kontra gespalten war. In der Nachbargemeinde Weisweil, der Protesthochburg, haben die dort 1974 gegründeten Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen ein Archiv eingerichtet, „das Gedächtnis für das, was passiert ist“, sagt dessen Leiter Kurt Schmidt. Denn die Wahrheit steckt nicht allein in den Akten, betont der Physiker und rastlose Buchautor Georg Löser. „Wir müssen unsere Geschichte selber schreiben.“ Allein schon deshalb, weil Nachgeborene sich oft mehr mit Mythen als mit Fakten beschäftigen und damit die Aktivisten der ersten Stunde verärgern.

Professoren etwa, die behaupten, die Kaiserstühler Bauern hätten zur Platzbesetzung feige ihre Frauen vorgeschickt. Oder klagen, man finde noch nicht einmal ein Mahnmal. Stimmt ja gar nicht. An der legendären Nato-Rampe steht der Findling, auf dem das erste und letzte Wort zum Thema Wyhl steht: Nai hämmer gsait!