Manchmal kommt das Glück, wenn man es gar nicht erwartet. Man darf es dann nur nicht verpassen, erklärt StZ-Redakteur Lukas Jenkner.

Nachrichtenzentrale : Lukas Jenkner (loj)

Stuttgart - Die bestürzende Erkenntnis überfällt mich an einem diesigen Märzmorgen 2007 auf einer belebten Kreuzung in Hongkong: Ich habe zu viel Zeit. Die beste Ehefrau von allen, von der Firma ins ferne Asien verschickt, bringt das Geld heim ins schnieke Apartment im 21. Stock. Nach acht Jahren im Hamsterrad muss ich plötzlich ein Jahr lang nicht mehr, sondern ich darf. Das Problem: ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich dürfen wollen könnte. Die freie Zeit gähnt mir wie ein Abgrund entgegen. Ich bin gestresst.

 

Fest im Griff der deutschen Arbeitsethik habe ich bisher mitgespielt: nie Nein sagen, immer alles schaffen und gleichzeitig darüber lamentieren, dass die Zeit jetzt schon nicht reicht. Zeit haben kommt in diesem Konzept nicht vor. Kinder lernen es gar nicht erst. Es ist ein chronisches Mangelempfinden, das wir von der hungernden Kriegsgeneration als Lebensprinzip über-nommen haben: zu wenig im Kühlschrank, zu wenig Urlaub, zu wenig Ruhe, zu wenig Platz, zu wenig Zeit, zu wenig Liebe. Habe ich mal Luft, muss mir niemand etwas draufpacken: Das mache ich schon selbst. Meinen Freunden sage ich abends ab mit der Begründung, ich sei zu spät aus der Redaktion gekommen. Das ist sozial akzeptiert. Wer sich mal Zeit für sich nimmt und das so sagt, gilt als Hedonist. Es ist viel einfacher, zu wenig Zeit zu haben. Dann müssen wir nur darüber nachdenken, wie wir möglichst viel hinbekommen, und nicht, warum überhaupt. Zeitmanagement als Schadensbegrenzung: das Rad dreht sich von selbst, und ich muss nur mitstrampeln – dachte ich.

Aber ein Perpetuum mobile gibt es nicht. Beim Rennen gegen die Zeit liefere ich die Energie – und die ist begrenzt. Tatsächlich habe ich selbst das Hamsterrad angetrieben. Weil das eine irritierende Erkenntnis war, habe ich mich von der Ehefrau freudig ins nächste Hongkonger Yogastudio schleifen lassen – und war beschäftigt. Ein tolles Gefühl! Angefangen habe ich nicht, weil ich Erleuchtung suchte, sondern aus Langeweile. Inmitten von Hongkonger Ladys habe ich den Po in den herabschauenden Hund hochgestreckt, was nur möglich war, weil ich wusste, dass wirklich kein Mensch mich dort kannte. Gefühlt habe ich mich trotzdem wie ein rosa Elefant. Ich hatte die erste wichtige Erkenntnis: Was für mich gut ist, hat nichts damit zu tun, wie es bei anderen ankommt.

Wie Julia Roberts in „Eat, Pray, Love“

Vor der Zeit gab es jedoch kein Entkommen. Unruhig zappelte ich nach zehn Minuten im Schneidersitz herum. Wie Julia Roberts in „Eat, Pray, Love“ starrte ich ungläubig auf die Uhr und sah dabei zu, wie die Sekunden von den Zeigern tropften.

Wer zum Yoga geht, bekommt eher früher als später zu hören, dass allein der Atem zählt. Der Atem hält den Menschen im Hier und Jetzt, man kann nicht auf Vorrat atmen oder Atemzüge nachholen. Wie lang eine Minute sein kann, habe ich gelernt, als ich bei Atemübungen die Luft anhalten sollte. Da ist die Unendlichkeit plötzlich sehr nah. Die Sekunden, die mir sonst fehlten, zogen sich und zogen sich. Zweite wichtige Erkenntnis: die Zeit bleibt immer gleich, ändern kann ich nur, wie ich sie wahrnehme.

Deshalb halte ich mich heute bevorzugt im Hier und Jetzt auf und versuche, meinem Gehirn beizubringen, nicht an Dingen herumzuknibbeln, die entweder vorbei sind oder erst noch auf mich zukommen. Es ist eine Frage der Balance: Einerseits gehe ich Dinge, die mich beschäftigen, möglichst sofort an, andererseits lasse ich manchem erst einmal seinen Lauf. Was günstig ist oder ungünstig, stell sich oft erst nach einem Vierteljahr heraus. Aus dem Internet stammt Folgendes: Hast du ein Problem? Wenn ja, kannst du es lösen? Dann löse es. Wenn nicht, ist es nicht dein Problem – also hast du auch keines.

Nach fünf Jahren Yoga weiß ich, dass Veränderung möglich ist. Aber sie braucht Zeit. Sie ist eine Frage der Prioritäten und bedeutet mehr, als Aphorismen von Paolo Coelho auf eine virtuelle Pinnwand im Internet zu kleben. Es heißt, tatsächlich etwas zu tun – nicht erst morgen, sondern jetzt. Seither habe ich fast immer die Zeit, die ich brauche, weder zu viel noch zu wenig. Und sollte ich mir einbilden, dass sie doch nicht reicht, weiß ich: ich habe die Freiheit, mich nicht darüber aufzuregen.