In Ulm diskutieren Zahnärzte über Probleme in der Mundhöhle, denn nicht nur die Zähne selbst können krank sein: Auch Geschwüre und Entzündungen treten auf – und bleiben manchmal lange unentdeckt.

Ulm - „Wir müssen immer ganz genau hinschauen“, warnt Elmar Ludwig seine Zuhörer im Bundeswehrkrankenhaus Ulm. „Kieferhöhlentumore werden lange Zeit nicht bemerkt.“ Der Vorsitzende des Arbeitskreises Alters- und Behindertenzahnheilkunde der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg hat zum Presseforum des Informationszentrums Zahngesundheit schockierende Bilder und einen Film mitgebracht. Sie verdeutlichen allzu gut, was er meint und mit welcher Klientel er es seit zehn Jahren in seiner Praxis zu tun hat. „Da haben Patienten zu lange den Kopf in den Sand gesteckt, sie kommen viel zu spät.“

 

Betroffen sei besonders die Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen, sagt Ludwig. Da war zum Beispiel jene Frau, die seit zehn Jahren ihre Prothese nicht mehr aus dem Mund genommen habe, weil es angeblich nicht mehr ging. „In Wirklichkeit wollte sie aber gar nicht wissen, wie es unter der Prothese aussah“, berichtet Ludwig und wirft Bilder an die Wand, die eine Mundhöhle mit gruselig verfärbten Verwachsungen und Zahnstümpfen zeigen. „Dabei war die Frau sogar verheiratet. Sie werden es den Patienten äußerlich nicht ansehen, Sie treffen solche Menschen auf der Straße.”

Weil die Patienten so spät zum Zahnarzt gehen, habe sich der Reha-Erfolg in den letzten zehn Jahren auch nicht verbessert, sagt Ludwig. Wenn er etwas gelernt habe, dann: dass er heute bei diesen Patienten weniger mache als früher. „Diese Menschen brauchen Begleitung, keine schlauen Worte. Da müssen wir noch besser werden. Vielleicht verstirbt der Patient ja schon, bevor wir unsere aufwendigen Zahnbehandlungen abgeschlossen haben.“ Ansonsten stehe heute dank der modernen dreidimensionalen Fertigungsmöglichkeiten künstlicher Gesichtsteile eine ganze Palette individueller Konzepte zur Verfügung, die es Schwerstkranken ermöglichen, wieder am sozialen Leben teilzunehmen. Denn das, so wurde aus Ludwigs Schilderungen deutlich, ist oft eine schlimme Nebenfolge der Tumorerkrankung: Der im Gesicht verformte Patient wird schnell zum gesellschaftlichen Außenseiter.

Gefordert wird fachübergreifende Zusammenarbeit

In einem Pflegeheim etwa möchte man ihn oft nicht zusammen am Tisch mit den anderen Bewohnern oder Besuchern essen lassen, berichtet Ludwig. Meist zögen sich die Patienten von allein zurück. Dann kommen zu den körperlichen Beschwerden – viele Tumorpatienten werden bestrahlt und entwickeln porösen Zahnschmelz, Kronen fallen aus, die Mundtrockenheit belastet – die sozialen Qualen hinzu.

Genau hinschauen in der Mundhöhle, weil sie mehr als „eine Kiste“ voller Zähne ist – so lautet das Motto der Ulmer Tagung. Damit es nicht erst zu den dramatischen Fällen kommt, die Ludwig schildert, ist es wichtig, dass der Zahnarzt bei Verdacht auch Fachkollegen anderer Disziplinen hinzuzieht. In den Bundeswehrkrankenhäusern sei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit allen Abteilungen „selbstverständlich“, sagt Kerstin Kladny, Ärztliche Direktorin des Fachzahnärztlichen Zentrums am Standort Ulm. Chefarzt Armin Kalinowski erklärt das so: „Auch im Auslandseinsatz ist schließlich alles miteinander vernetzt. Deshalb haben unsere Einsatzchirurgen immer eine zweite Facharztausbildung.“ Die großen Lazarette, in denen derzeit den Soldaten in Afghanistan und im Kosovo Maximalversorgung geboten würde, müssten schließlich dem hiesigen medizinischen Standard entsprechen. „Das ist politischer Auftrag, den müssen wir erfüllen“, sagt Kalinowski.

Kladny zeigt Fälle auf, in denen Orthopäden, Psychosomatiker, Chirurgen, Anästhesisten oder Internisten hinzugezogen werden mussten. So haben Diabetiker ein dreifach erhöhtes Paradontitis-Risiko. Behandelt man die Parodontitis effektiv, so verbessert sich auch die diabetische Stoffwechsellage. Umgekehrt gilt: eine Parodontitis kann Hinweis auf einen Diabetes liefern. Der Zahnarzt sollte überlegen, ob er den Patienten zum Internisten schickt.

Auch für den Hautarzt lohnt sich der Blick in den Mund

In einem anderen Fall war eine Patientin verzweifelt, weil sie wechselnd auftretende Schmerzen in der rechten Gesichtshälfte hatte und dafür ihre Prothese verantwortlich machte. Sechs Zahnärzte hatten sich schon erfolglos an dem Fall versucht. Bis Kladny die gekrümmte Haltung der 65-jährigen Raucherin auffiel. So kam ihr ein Verdacht, der sich bestätigte: Frakturen im Kiefergelenk aufgrund einer Osteoporose. Dank medikamentöser und physikalischer Therapie und Unterstützung durch einen Orthopäden habe der Patientin geholfen werden können.

Zunehmend kämen auch Patienten mit Kopf- und Gesichtsschmerzen, so Kladny, weil Zähne immer auch als „Stressventil“ fungierten: Die Patienten knirschen nachts mit den Zähnen und zerstören sich dadurch nicht nur ihre Zähne, sondern bekommen auch Kopf- und Gesichtsschmerzen. Einerseits seien dann Knirschschienen angebracht, andererseits könnte ein Besuch beim Psychosomatiker helfen.

Dass sich in der Mundhöhle auch für den Hautarzt wertvolle Diagnosen verstecken, zeigt Guido Weisel, Ärztlicher Direktor der Dermatologie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Dazu zählt er gut- und bösartige Tumoren der Haut und Schleimhaut, Infektionen, Autoimmunerkrankungen und chronische Entzündungen, „die den Behandler und den Patienten auf eine langfristige therapeutische Reise schicken und vom Patienten viel Geduld und Leiden abverlangen“. Ein interdisziplinäres Netzwerk sei da „fruchtbar und nützlich“. Chefarzt Kalinowski spricht deshalb nicht ohne Stolz von einer „Kopfklinik“, in der alle Disziplinen vereint sind. „Der Mund-Kiefer-Gesichtschirurg kriegt alleine nix hin“, sagt Alexander Schramm, Ärztlicher Direktor der Mund-, Kiefer- und Plastischen Gesichtschirurgie am Bundeswehrkrankenhaus und demnächst auch in gleicher Funktion am benachbarten Uniklinikum. „Nur als Teamplayer ist er erfolgreich.“