In der Serie Zahnradbahn-Gespräch spricht diesmal der gerade in Rente gegangene deutsche Turnpräsident Rainer Brechtken über Höhepunkte und Tiefpunkte seiner Karriere – und über die Stuttgarter OB-Wahl 1996, an die er keine besonders guten Erinnerungen hat.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Das gefällt Rainer Brechtken. Aus der gerade angekommenen Zahnradbahn am Marienplatz wuselt es heraus. Die Leonhardskrippe aus der Stuttgarter Innenstadt ist heute auf Tour. Der 71-Jährige macht den Ausstieg frei und lächelt. Lauter potenzielle Kandidaten fürs Kinderturnen, denkt Brechtken, der sich offenbar immer noch der Mitgliederwerbung verpflichtet fühlt. So schnell lässt sich das Vorleben eben nicht zu den Akten legen, ist Rainer Brechtken doch erst ein paar Tage zuvor als Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB) ausgeschieden. In Frankfurt hat er am vergangenen Samstag die Führung des Fünf-Millionen-Mitglieder-Verbands an Alfons Hölzl übergeben.

 

Mit einem Hüftaufschwung am Geländer katapultiert sich der ehemaliger Oberturner jetzt nicht die steilen Stufen hinauf ins Abteil, aber sehr sportlich sieht das trotzdem aus. „Ich bin Marathonläufer“, sagt Brechtken. Was dann der Startschuss zum Zahnradbahn-Gespräch ist, in dem er über die Höhe- und Tiefpunkte in seiner Karriere erzählen soll. Auf der Fahrt nach oben lässt Brechtken zunächst einmal Zahlen sprechen. „69 Medaillen haben wir seit meinem Amtsantritt 2000 im Kunst-, Trampolinturnen und in der Rhythmischen Sportgymnastik geholt“, sagt er, „nicht zu vergessen die Faustballer.“

Rainer Brechtken hat immer das große Ganze im Blick, auch wenn das meiste Interesse seines Verbandes die Kunstturner auf sich ziehen. Die Vorzeigesportart hat er in seiner 16-jährigen Amtszeit gestärkt, die Strukturen dort professionalisiert. Weil er immer auch einen Leitspruch im Kopf gehabt hat: „Über den Spitzensport wirst du wahrgenommen, der Verband und was er zu sagen hat, bekommt so mehr Gewicht.“

Rainer Brechtken hat eine ganze Menge zu sagen – und auch eine Frage: „Wissen Sie, warum ich mich damals dazu entschlossen habe, Ämter im Turnen zu übernehmen, obwohl ich keine entsprechende Vergangenheit habe?“ Mal nachdenken. Diesen Vorgang kürzt der Schorndorfer mit der Antwort ab: „Weil Turnen den größten politischen Anspruch im Sport geltend machen kann“, sagt der Mann, der zeitweise parallel den Deutschen und den Schwäbischen Turner-Bund geführt hat. „Ein Turnverband hat mit vielen gesellschaftspolitischen Themen zu tun“, sagt Brechtken und führt die Themen Demografie, Gesundheitspolitik und Inklusion an.

Schnelles Umschalten vom Breitensport- in den Spitzensportmodus

Solche Berührungspunkte liegen dann insbesondere im Breitensport, der im Turnverband eine wichtige Rolle spielt. „Kürzlich war ich bei einer Veranstaltung, bei der es eine gemeinsame Aufführung einer Balletttänzerin und einer Rollstuhlfahrerin gab. 1200 Zuschauer waren begeistert. Das war ein Höhepunkt in meiner Karriere“, sagt Rainer Brechtken, der aber auch ganz schnell wieder in den Spitzensportmodus schalten kann, wenn es um seine persönliche Bestenliste geht. „Die Turn-Weltmeisterschaften 2007 hier waren ein grandioses Ereignis“, sagt der Mann, der maßgeblich daran mitgearbeitet hat, dass Stuttgart die deutsche Turnhauptstadt ist. Außerdem hat er die Karriere des Reck-Stars Fabian Hambüchen als Präsident begleitet, von dessen WM-Gold in Stuttgart bis zu einem Olympiasieg im Sommer in Rio de Janeiro.

Am Zacke-Wendepunkt in Degerloch findet eine kleine Verwandlung statt. Aus Sportler Rainer wird Politiker Brechtken, der 21 Jahre im baden-württembergische Landtag die SPD und den Wahlkreis Waiblingen vertreten hat. In einer großen Koalition war er zwischen 1992 und 1996 Staatssekretär im Wirtschaftsministerium von Dieter Spöri. 1996 erlebt Brechtken als Stuttgarter OB-Kandidat dann auch den Tiefpunkt seiner politischen Karriere und schickt einen einleitenden Satz voraus. „Die Leute wollten nur das Duell Rezzo Schlauch gegen Wolfgang Schuster.“ Im ersten Wahlgang erhält Brechtken 22,6 Prozent der Stimmen. Noch schlimmer wurde der zweite, als aus dem Nichts Pforzheims SPD-OB Joachim Becker als unabhängiger Kandidat auf den Plan trat und Brechtkens Ergebnis am Ende auf 13,5 Prozent drückte. „Das war schon ein Tiefpunkt“, sagt Rainer Brechtken, der sich aber im Rückblick in seinen politischen Ideen für Stuttgart bestätigt fühlt: mit seinem deutlichen Ja zur Filder-Messe und seiner Forderung, ein in sich schlüssiges städtebauliches Gesamtkonzept für die Landeshauptstadt zu erstellen.

Erinnerungen an den schlimmen Unfall von Ronny Ziesmer

Mit der verlorenen Wahl will sich Brechtken aber jetzt nicht mehr lange aufhalten. Die Geschichte sei doch unbedeutend im Vergleich zu einer anderen, sagt er. Es ist ein Drama, das sich in Kienbaum bei Berlin abspielt, wo sich die deutschen Olympiaturner 2004 auf die Spiele in Athen vorbereiten. Nach einem Doppelsalto beim Sprung schlägt Ronny Ziesmer mit dem Kopf auf dem Boden auf. Die niederschmetternde Diagnose: Bruch der Halswirbelsäule, Querschnittslähmung.

„Mannschaft, Trainer, Funktionäre – wir alle standen nach dieser Nachricht unter Schock“, erzählt Rainer Brechtken. „In einer Ansprache habe ich es den Athleten freigestellt, ob sie bei Olympia an den Start gehen.“ Die schnellste Reaktion darauf zeigte damals Ronny Ziesmer, der eine klare Ansage machte: „Ihr fahrt!“ Von diesen zwei Wörtern ist Brechtken noch heute tief beeindruckt. Ein weiterer Tiefpunkt spielt sich dann 2014 fast vor der Haustür ab, im Leistungszentrum der Rhythmischen Sportgymnastik in Schmiden, wo Brechtken Verwerfungen leitender Angestellter nachgehen muss, die von Medikamentenmissbrauch bis zum Vorwurf der körperlichen Gewalt reichen. Am Ende der Aufarbeitung ist für Brechtken klar, dass es hier keinen Platz mehr gibt für die beschuldigten Trainerinnen und die Stützpunktleiterin.

Genug der Tiefpunkte, denkt sich Rainer Brechtken im Café Kaiserbau angekommen, wo das Zahnradbahngespräch traditionell auf die Zielgerade einbiegt. Dort erzählt er noch eine kleine Anekdote aus dem Landtag: Nachdem sich die Grünen einst gegen eine Stuttgarter Olympia-Bewerbung ausgesprochen hatten, wollte Winfred Hermann seine Partei nicht als unsportlich dastehen lassen und bot Wettkämpfe in jeder olympischen Disziplin an. Der Zwischenruf „Bürschle, des wirsch bereuen“ kam von Rainer Brechtken. Er forderte Hermann in einem 13-Kilometer-Lauf heraus. „Ich habe eine ganz gemeine Strecke durch den Schurwald rausgesucht, was auch zum gewünschten Erfolg führte.“

Hier geht zu allen Teilen der Serie „Zahnradbahn-Gespräch.