Kevin Kuranyi spricht im Zahnradbahn-Gespräch über schöne Zeiten in Stuttgart, Moskau und auf Schalke. Und er erinnert sich an den dunkelsten Moment seiner Karriere auf der Tribüne in Dortmund sowie die anschließende Fußball-Fahnenflucht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Um 10.30 Uhr soll es losgehen. So ist es mit dem Berater vereinbart. Der sendet aber kurz vor dem Treffen noch eine Nachricht: „10.30 Uhr, plus KK-Kulanz!“ Was soll’s. Dann beginnt das Zahnradbahn-Gespräch mit Kevin Kuranyi eben etwas später. Von wegen. Um 10.23 Uhr läuft der 34-Jährige beschwingt über den Marienplatz und sagt: „Nicht schlecht, oder? Das nennt man überpünktlich.“

 

Erholt sieht der ehemalige Nationalstürmer aus, sehr schlank, gut gebräunt. Und er lächelt entspannt. Der Mann kommt ja auch gerade aus dem Urlaub. Erst war er mit seiner Frau und den beiden Kindern in Griechenland, dann in Kroatien auf einer Hochzeit. „Genug ausgeruht“, sagt er. Jetzt will Kevin Kuranyi, der bei dem VfB Stuttgart, Schalke 04, Dynamo Moskau und zuletzt in Hoffenheim gespielt hat, noch einmal angreifen. Wo, das weiß er noch nicht. Eines aber weiß er sicher: Seine Spielerkarriere soll noch nicht zu Ende sein.

Deshalb will Kevin Kuranyi das Zahnradbahn-Gespräch über die Höhen und Tiefen auch nicht als sein persönliches sportliches Fazit sehen, sondern als Zwischenbilanz im Herbst der Laufbahn. Und so ein Herbst ist ja auch gern mal golden.

Das unvergessliche Spiel gegen Manchester United

Genug der Vorrede, rein in die Zahnradbahn, hinsetzen . . . aber wohin? So voll war die Zacke schon lange nicht mehr. Der Ferienbeginn ist schuld daran und dieselbe Idee vieler Schüler, sich mit der Zahnradbahn nach Degerloch bringen zu lassen und mit dem BMX-Rad zurück in den Kessel zu düsen. Nur noch direkt hinter der Fahrerkabine ist eine Sitzgruppe frei. Warum, das wird auch schnell klar. Die durchs Fenster scheinende Sonne brennt fast das SSB-Muster aus den Polstern. „Da müssen wir jetzt durch“, sagt Kuranyi, lacht und beginnt über die Höhepunkte seiner Karriere zu sprechen. „Manchester“, sagt er nur. Das reicht. Unvergesslich ist dieser 1. Oktober 2003, als der VfB als krasser Außenseiter in der Gruppenphase der Champions League Manchester United mit 2:1 besiegt. Szenen aus dieser Partie begegnen einem heute noch in Stuttgart – als gerahmte Poster in Kneipen, in denen zuletzt der Frust über den VfB-Abstieg am Tresen hinuntergespült wurde. Manchester und Kuranyi, der in diesem denkwürdigen Spiel das zweite Stuttgarter Tor geschossen hat, stehen für große Zeiten beim VfB.

Jetzt sitzt Kevin Kuranyi in der Zacke und schwärmt von dieser Stuttgarter Fußballblüte – von einer Mannschaft, in der so ziemlich alles zusammengepasst hat. „Es war eine sehr gute Mischung aus erfahrenen Spielern wie Zvonimir Soldo oder Silvio Meißner und jungen Typen wie Philipp Lahm oder ich“, erzählt Kuranyi – und von Felix Magath. „Ich war unter keinem Trainer fitter als unter ihm.“

2005 wechselt Kuranyi zu Schalke 04 und setzt sich auch dort durch, obwohl der Anfang nicht einfach gewesen sei. Schließlich wird er als Thronfolger des Schalker Sturm-Heiligtums Ebbe Sand verpflichtet. „Was, der Schnösel?“, erinnert sich Kevin Kuranyi an die Schalker Fan-Reaktion auf seine Verpflichtung: „Die Leute haben aber schnell gemerkt, dass ich mich voll für den Verein reinhänge, und dann schließen sie dich in ihr Herz.“ Natürlich hilft es dabei auch, dass der Mann mit der Nummer 22 regelmäßig trifft. Acht Spielzeiten hintereinander erzielt Kuranyi Tore im zweistelligen Bereich. Diese Marke haben in der Geschichte der Bundesliga nur zwei Spieler übertroffen – Gerd Müller (13-mal in Folge) und Manfred Burgsmüller (zehnmal).

Mit Schalke spielt er oben mit, wird 2007 Vizemeister (hinter dem VfB) und erreicht das Viertelfinale der Champions League. 2010 folgt der Wechsel nach Russland – „und fünf tolle Jahre in Moskau mit vielen neuen Freunden“, wie Kuranyi sagt: „Meine Kinder sind dort aufgewachsen, ihnen ist der Abschied sehr schwer gefallen.“

Hoffenheimer Erfahrungsschatz und Stuttgarter Herzensclub

Die Zahnradbahn ist am Wendepunkt in Degerloch angekommen, und Kevin Kuranyi kommt langsam zu den unerfreulicheren Themen. Den Wechsel nach Hoffenheim hatte er sich natürlich anders vorgestellt. In der vergangenen Saison kam er nur auf 13 Bundesliga-Spiele, die für ihn auch noch torlos blieben.

Aber Kuranyi hat kein Problem mit dieser einjährigen Episode, die mit dem verhinderten Abstieg auch für ihn irgendwie versöhnlich ausging. Er ist ja auch keiner, der sich beschwert. Nicht in Hoffenheim, und auch jetzt nicht im Zahnradbahn-Gespräch. Er hält Julian Nagelsmann für einen Trainer, „der eine große Karriere machen wird“. Und mit seiner Rolle als erfahrener Spieler, der die Kollegen aufmuntert – wenn es sein muss, von der Bank aus –, hat er sich irgendwann auch arrangiert. So gut, dass er aus dem Hoffenheimer Trainingslager in Tirol immer wieder Nachrichten mit diesem Inhalt bekommt: „Kevin, Du und Deine gute Laune fehlen! Schau’ doch mal bei uns vorbei.“ Würde er ja gerne machen, aber im Moment muss der vereinslose Kuranyi nach sich selber schauen. „Für den VfB würde ich mehr oder weniger umsonst spielen“, sagt er, schließlich sei das sein „Herzensverein“. Außerdem ist er gerade dabei, seinen Lebensmittelpunkt zurück nach Stuttgart-Sonnenberg zu verlegen.

Die Zahnradbahn hat Fahrt aufgenommen, höchste Zeit, auf einen richtigen Tiefpunkt zu sprechen zu kommen.

Am 11. Oktober 2008 spielt die deutsche Nationalmannschaft in der WM-Qualifikation gegen Russland. Kevin Kuranyi, seit der EM 2004 eine feste Größe in der DFB-Auswahl, wird von Bundestrainer Joachim Löw nicht berücksichtigt und muss auf der Tribüne Platz nehmen. Für einen Schalker Spieler im Dortmunder Stadion eine Strafe, die während des Spiels immer härter wird, weil Kuranyi von den Zuschauern zuerst beschimpft und dann auch noch mit Stadionheften und leeren Plastikbechern beworfen wird.

Irgendwann ist ihm das zu blöd. Mitte der zweiten Halbzeit flüchtet er aus dem Stadion. „Der größte Fehler in meiner Karriere“, sagt Kevin Kuranyi, dessen Nationalmannschaftslaufbahn damit nach 52 Spielen und 13 Toren beendet ist. Was möglicherweise nicht allein mit dieser speziellen Form der Fahnenflucht zu tun hat, sondern auch mit dem damaligen taktischen Ansatz von Joachim Löw, dessen mittelstürmerlose Phase gerade begonnen hatte.

Verworrenes Familiengeflecht

Die Zacke ist wieder am Marienplatz angekommen. Und das war’s dann auch schon mit den Tiefpunkten in der Karriere von Kevin Dennis Kurányi Rodríguez, wie er in der korrekten Vollversion heißt.

Normalerweise würde es jetzt zur Nachbesprechung in ein Café am Marienplatz gehen. „Oder sollen wir in meinen Laden fahren?“, will Kevin Kuranyi wissen. Warum nicht? Im Restaurant H’ugo’s mit Blick auf den Hauptbahnhof wird der Chef von allen Mitarbeitern herzlich begrüßt. Bei einem Mineralwasser und einem Cappuccino erzählt Patron Kevin von seinem gastronomischen Projekt, das sein jüngerer Bruder Romulo als Geschäftsführer leitet. Der ist gerade zur Weiterbildung in Frankfurt, auf Geheiß von Kevin Kuranyi, der mittlerweile so etwas wie das Oberhaupt der Großfamilie ist, zu der die drei Brüder und ihre Familien gehören. Aber auch Kont Kuranyi hört auf seinen zweitältesten Sohn, nachdem der früher immer wieder für Geschäfte seines Vaters finanziell geradegestanden ist, die nicht von Erfolg gekrönt waren. Um das Restaurant kann sich Kevin Kuranyi jetzt nicht auch noch kümmern, schließlich will er es als Fußballprofi noch einmal wissen.

Jetzt wäre doch noch eine gute Gelegenheit, die komplizierten Familienverhältnisse im Multikulti-Haus der Kuranyis zu entwirren. „Also“, beginnt Kevin Kuranyi und erzählt vom Urgroßvater aus Dänemark, vom ungarischen Opa und vom Vater aus Frankreich, der rund um Ludwigsburg aufgewachsen ist. Geboren ist Kevin Kuranyi in Rio de Janeiro, aufgewachsen mit einem Bruder in Panama, der Heimat seiner Mutter, die dorthin zurückgegangen ist. Der Vater blieb in Brasilien, heiratete erneut, was Kevin Kuranyi zwei Halbbrüder bescherte. Als er 17 war, vermittelte ihm der Vater ein Probetraining beim VfB, und die Fußballkarriere begann. „Und sie soll auch noch ein bisschen weitergehen“, sagt Kevin Kuranyi beim Abschied.