Das TV-Drama „Und alle haben geschwiegen“, das am Montagabend ausgestrahlt wird, wirft ein Schlaglicht auf die verdrängte Geschichte der Heimerziehung im Nachkriegsdeutschland.

Stuttgart - Wenn Andrea Stoll sich mit den Themen Kindheit und Jugend befasst, fußt das auf einem breiten Erfahrungshintergrund. Als Literaturwissenschaftlerin hat sie nicht nur Ingeborg Bachmanns Briefwechsel mit Paul Celan herausgegeben, sondern unter dem Titel „Himmel und Hölle“ auch Texte von Karl Philipp Moritz bis Anne-Sophie Brasme, die sich mit den Träumen und Traumata der frühen Jahre befassen. Als Drehbuchautorin schilderte sie in „Der kalte Himmel“ die Innen- und Außenwelt eines autistischen Jungen.

 

„Kindheit und Jugend gehören für mich zu den spannendsten Abschnitten im Leben“, sagt die Mutter zweier erwachsener Kinder. „Auch große Schriftsteller sagen oft, das seien die entscheidenden Zeiten gewesen, aus denen sich die inneren Bilder speisen, in denen sich die Persönlichkeit entwickelt.“ Für das Drehbuch zu ihrem neuen Film „Und alle haben geschwiegen“ befasste sie sich mit einem sehr dunklen Kapitel der Erziehungsgeschichte: mit dem Schicksal von Heimkindern im Deutschland der sechziger Jahre.

Hatte sie mit den schrecklichen Ergebnissen der Recherche gerechnet? „Nein“, antwortet Stoll, auf so ein Ausmaß an Grausamkeit sei sie nicht vorbereitet gewesen. Der Auslöser waren zwei Zeitungsmeldungen, wonach es nicht nur in katholischen, sondern auch in evangelischen Erziehungsheimen Übergriffe und missbräuchlichen Umgang mit Schutzbefohlenen gegeben hatte und deshalb ein Petitionsausschuss im Bundestag gegründet worden war. „Das hat mich sehr erschreckt; da wollte ich Näheres darüber wissen.“ Stoll arbeitete eng mit Peter Wensierski, dem Autor des Bestsellers „Schläge im Namen des Herrn“ zusammen, der erstmals Lebensgeschichten von ehemaligen Heimzöglingen aufgezeichnet hatte. Sie besuchte zudem Tagungen von Betroffenen und führte Gespräche. „Was ich dabei erfahren habe, war unglaublich, ja, perfide.“ In geschlossenen Institutionen könne sich die Neigung zu Machtmissbrauch, Grausamkeit und Sadismus wohl unkontrolliert ausbreiten, das gelte für Pflegeheime genauso wie für Internate und Kinderhorte ebenso wie für Familien, wenn keine Außenkontrolle mehr stattfinde. „Da gibt es dann kein Unrechtsbewusstsein mehr, das wird einfach nicht mehr zugelassen.“

Prügelnde Ordensschwestern

Neben der Gewalt spielt im Film aber auch die Liebe eine Rolle – den Gesetzmäßigkeiten des Fernsehens, nach denen man die Zuschauer gerade bei unbequemen Themen binden muss, damit sie nicht einfach weiterzappen, könne man nicht ausweichen, sagt Stoll. Unter der Regie von Dror Zahavi steht so die zarte Beziehung der beiden Teenager Luisa und Paul im Fokus, die jungen Hauptdarsteller Alicia von Rittberg und Leonard Carow müssen sich im Heim Falkenstein von im Nationalsozialismus groß gewordenen Ordensschwestern und von traumatisierten Kriegsheimkehrern demütigen und prügeln lassen, sobald sie nur Millimeter von willkürlich gesetzten Normen abweichen – und nachher auch noch „Großer Gott wir loben dich“ singen.

Welche Auswirkungen diese seelischen und körperlichen Misshandlungen noch über vierzig Jahre später haben, zeigen eindrucksvoll Senta Berger und Matthias Habich, die sich in Berlin Ende der Nullerjahre wegen der Einladung vor den Petitionsausschuss wiedertreffen. Die Ambivalenz dieser Begegnung lässt der politische, das Seelenleben von Heranwachsenden und die Beschädigtheit von Erwachsenen ernst nehmende Film durchaus zu. „Wenn wir reden, haben die keine Macht mehr über uns“, schleudert die alt gewordene, aber immer noch kämpferische Luisa dem introvertierten Paul entgegen. Und der antwortet ihr skeptisch: „Was soll ich denen sagen? Gebt mir mein Leben zurück?“