Hans Steinbichler präsentiert mit dem ZDF-Drama „Das Dorf des Schweigens“ abermals einen atmosphärisch-geheimnisvollen Heimatfilm – mit einem grandiosen Schauspielerensemble
München - Titel von Büchern oder Filmen können auf die falsche Fährte führen. „Das Dorf des Schweigens“ klingt nach einer kruden Mischung aus „Das Schweigen der Lämmer“ und „Das Lied des Lebens“; es sind irgendwie einfach ein bisschen zu viele Substantive im Satz – und die passen nicht mal zur Geschichte. Denn das ZDF-Drama spielt nicht auf dem Dorf, sondern im fantastisch in die Höhe geschachtelten österreichischen Kurort Bad Gastein; es geht nicht um Bauernburschen oder Handwerker, sondern um eine distinguierte Hoteliersfamilie. Und statt hausbackener Konfektion wird Kunstheimkino geboten. Das sind nicht die einzigen Überraschungen, die man erlebt, wenn man an diesem Montag um 20.15 Uhr das ZDF einschaltet. Da wird zur Primetime ein Film gesendet, den der Regisseur Hans Steinbichler selbst „durchaus eine Zumutung“ nennt.
Es gebe darin „keine happiness flutsch fun fun“ sagte der 49-Jährige bei der Präsentation auf dem diesjährigen Münchner Filmfest. Und es gibt auch keine Kriminalhandlung, in der nach Schema F ein Verbrechen begangen und dann gelöst wird. Stattdessen spielt der Chiemgauer eine neue filmische Versuchsanordnung mit den dunklen Sujets durch, die sein Werk von Anfang an durchzogen. Was ist Heimat, und was treibt einen von ihr fort? Wo lauert hinter landschaftlicher Schönheit das Grauen? Was können Menschen, die miteinander verwandt sind und sich dauernd gegenseitig ihre Liebe versichern, gegenseitig ohne ursächlich bösen Willen so alles antun? Darum ging es schon in „Hierankl“, Steinbichlers vielfach preisgekröntem Debüt von 2003, „Heimat“, zitierte er damals einen Kollegen „ist da, wo es weh tut“.
Zentrum des Schmerzes ist diesmal Eva Perner, eine junge Ärztin, von Petra Schmidt-Schaller als ätherische Alpen-Madonna gespielt. Sie arbeitet im Gasteiner heilklimatischen Stollen, wohnt in der Nähe von Eltern und Bruder und will demnächst ihren Gefährten Christian, (Simon Schwarz), einen älteren Lehrer, heiraten. Weil sie aber Angst hat, dass bei ihr, wie bei ihrer 45-jährigen Schwester Lydia eine Schizophrenie ausbrechen könnte, nimmt sie mit der seit dreißig Jahren in den USA lebenden Frau Kontakt auf, und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die ihr Leben komplett umkehren werden.
Von wem wurde Lydia, die mehr als verstört wirkt, im Alter von 14 Jahren vergewaltigt? Will sie die äußerlich perfekt scheinende Welt der Perners zerstören? Niemand weiß nichts, denn daheim, so könnte man sagen, lügen die Leut’. Steinbichler dehnt die daraus entstehende Spannung, nicht zuletzt mithilfe von Bella Halbens großartigen Bildern, bis aufs Äußerste. Ein fantastisches Schauspielerensemble, zu dem neben Ina Weisse auch Hildegard Schmal sowie der hinreißend zerbrechliche, im vergangenen Juni verstorbene Helmut Lohner gehört, der hier in seiner letzten Rolle zu sehen ist, zelebriert den geheimnisvollen Film als Kammerspiel. Er mache „Theater vor Bergkulisse“ hat Hans Steinbichler einmal gesagt, und so besorgt auch hier die grandiose Natur den Rest. Wolkenverhangene Gipfel und reißende Bäche setzt der Sohn des bekannten Bergführers und – autors Hans Steinbichler senior so in Szene, dass sie Teil des Geschehens werden. Ihn habe interessiert, „was passiert, wenn ein Mensch beschließt, so lange zu lügen, bis eine Wahrheit entsteht“, erklärte er dem Münchner Publikum. Und das lobte ihn vor allem dafür, dass er mal wieder das Schweigen und die stille Wiederkehr des Verdrängten im familiären Raum so ungeheuer intensiv in Szene setzt.