Die herausragend gut gespielte und komplexe ZDF-Serie „Gestern waren wir noch Kinder“ seziert die Hintergründe eines Mordes aus heiterem Himmel. Die Hauptfigur spielt die Influencerin Julia Beautx.

Ein Mann kommt nach Hause, tötet seine Frau, informiert die Polizei und lässt sich widerstandslos verhaften. Für die lokalen Medien ein Ereignis, überregional bloß einen Hinweis wert, aber der perfekte Stoff für eine Reportage über die Geschichte hinter der Meldung: Warum hat Anwalt Peter Klettmann aus heiterem Himmel und nach über zwanzig Ehejahren die Mutter seiner Kinder erstochen? Die Antwort auf diese Frage ist ein Missverständnis, das sich Mitte der Neunziger bei einer Abiturfeier zugetragen und eine Kettenreaktion ausgelöst hat, in deren Verlauf mehrere Familien zerstört werden. Der 25 Jahre später begangene Mord bildet keineswegs den Schlusspunkt der Ereigniskette.

 

Influencerin Julia Beautx spielt die Hauptfigur

„Gestern waren wir noch Kinder“ dauert mehr als fünf Stunden und ist keine Minute zu lang: weil die Produzentin Natalie Scharf ein Drehbuch geschrieben hat, das schon allein durch seine Tiefe imponiert. Mutig ist vor allem die Entscheidung, die Bürde der Hauptfigur einer Darstellerin mit wenig Erfahrung zu übertragen, selbst wenn die dank ihrer Lifestyle-Videos bei einem jungen Publikum als Influencerin bekannte Julia Beautx regelmäßig in der gleichfalls maßgeblich von Scharf geprägten ZDF-Sonntagsreihe „Frühling“ mitwirkt.

Für Vivi bricht eine Welt zusammen

Mit ihrer formidablen Verkörperung der 18-jährigen Tochter, die nach der Verhaftung ihres Vaters (Torben Liebrecht) um das Sorgerecht für ihre kleinen Geschwister kämpft, spielt sie sich in die erste Reihe. Natürlich bricht für Vivi mehr als nur eine Welt zusammen: Am Morgen hat die Familie noch Geburtstag gefeiert, Anna Klettmann ist an diesem Tag 44 Jahre alt geworden. Und dann ereignet sich die Tat, die Vivis Leben fortan teilen wird: in die glücklichen Jahre davor und die Zeit danach. Zweite Schlüsselfigur ist ein Polizist: Tim Münzinger war als Erster am Tatort und kümmert sich fortan rührend um Vivi, deren Geschwister in Pflegefamilien untergebracht werden. Julius Nitschkoff hat oft junge Kriminelle verkörpern müssen, aber stets angedeutet, dass viel mehr in ihm steckt.

Wäre da nicht Klettmanns düstere Einleitung aus dem Off, könnte die erste Begegnung der beiden jungen Leute auch der Auftakt zu einer unbeschwerten jugendlichen Romanze sein. Das Geständnis, das sich als Brief an Vivi entpuppt, legt sich jedoch wie eine dunkle Wolke über die heitere Szenerie: „Kein Geheimnis lässt sich für immer verbergen. Je schmutziger, umso hartnäckiger strebt es zum Licht. Geheimnisse sind wie Ungeziefer.“

Ein Mörder und trotzdem kein schlechter Mensch?

Unausgesprochene Botschaft der siebenteiligen Serie ist die Erkenntnis, dass jemand fünf Menschen auf dem Gewissen haben kann und trotzdem kein schlechter Mensch sein muss. Ulrich Tukur, der Peter Klettmanns Vater spielt, formuliert es im ZDF-Pressematerial so: „Dies ist die Geschichte einer schweren seelischen Verletzung, die sich über drei Generation hinzieht und am Ende zur Katastrophe führt. Der Film ist ein Lehrstück über Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit, sie zu überwinden.“ Das bringt es auf den Punkt: Letztlich handelt „Gestern waren wir noch Kinder“ von Verbrechen, für die noch die Enkelkinder büßen müssen.

Mit Songs von Depeche Mode

Im Grunde erzählt Scharf zwei Geschichten, wenngleich mit identischem Personal: hier die Gegenwart, dort die Jugend der Beteiligten Mitte der Neunziger. Entscheidend für die gleichberechtigte Qualität der beiden Zeitebenen sind die Leistungen auch der jugendlichen Mitwirkenden, allen voran Milena Tscharntke als Schulschwarm sowie Damian Hardung und Rieke Seja als junge Alter Egos von Peter und Anna.

Regie führte Nina Wolfrum; ihre Umsetzung ist allerdings nicht annähernd so ausgeklügelt wie das Drehbuch. Reizvoll ist auch das akustische Konzept: Die Atmosphäre wird geprägt von einer sorgfältigen Songauswahl, bei der die Musik von Depeche Mode eine besondere Rolle spielt.

Gestern waren wir noch Kinder. Sieben Folgen in drei Blöcken, ab 9. Januar, 20.15 Uhr, ZDF. Bereits in der Mediathek abrufbar.