Vor zehn Jahren ist das Stuttgarter Theaterhaus von Wangen auf den Pragsattel umgezogen. Ein voller Erfolg, wie sich rückblickend zeigt. Adrienne Braun analysiert, warum die Spielstätte im Norden so beliebt ist.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Heute putzt der Chef persönlich. Werner Schretzmeier macht sich mit Geschirrtuch und Kreide auf den Weg. Vier Vorstellungen stehen am Abend im Theaterhaus an, das heißt: 14 Tafeln müssen gewischt und neu beschriftet werden mit Titel, Einlasszeit, Pause, Ende. Da ist man eine Weile unterwegs, schließlich ist das Theaterhaus mehr als 9000 Quadratmeter groß. Es dauert, bis Werner Schretzmeier in die Kassenhalle zurückkehrt, um noch auf der großen Tafel Plakate und Infozettel aufzuhängen. Auch das gehört zu den Aufgabe des Abenddienstes. Aber weil der Chef heute selbst den Dienst verrichtet, haben die Kollegen die Informationen für ihn ausgedruckt. Schretzmeier und Computer – das passt nicht zusammen.

 

Am Freitag feiert das Theaterhaus Geburtstag: Vor zehn Jahren ist es von Wangen auf den Pragsattel gezogen – raus aus der ehemaligen Glasfabrik, rein in die schön sanierten Rheinstahlhallen. Aus dem alternativen, oft auch improvisierten Spielbetrieb wurde ein Veranstaltungsort, der nicht nur bestens besucht ist, sondern bundesweit bewundert wird für die gelungene Mischung zwischen High und Low, zwischen Neuer Musik und Comedy, Mega-events und Kleinkunst, modernem Tanz und Sprechtheater.

Der Chef verteilt selbst die Flyer

Trotzdem muss der Chef manchmal selbst die Werbeflyer auf den Sitzen verteilen – in der Halle T 1 sind das allein 1100 Karten. Im Theaterhaus ist vieles anders als in anderen Häusern. Es gibt natürlich auch hier Schneiderei, Metall- und Holzwerkstatt, aber wer im Theaterhaus arbeitet, muss und darf vielseitig sein – und ist eben nicht nur als Schreiner und Schneider tätig. „Wir haben auch nicht wie das Staatstheater einen Malsaal, in dem man Fußball spielen könnte“, erzählt die Pressesprecherin Antje Mohrmann. Der Malsaal des Theaterhauses ist kaum größer als ein Wohnzimmer – im Moment werden hier die Plakate für den Stuttgarter Tanz- und Theaterpreis gemalt. Von Hand.

Durch die großen Glasfronten der Ausstattungsabteilung kann man zuschauen, wie die Kollegen von der Technik gerade im Schneeregen einen 7,5-Tonner ausladen. Gauthier Dance war in Lörrach auf Gastspiel. Eigentlich müssen die Bühnenbilder der Theaterhaus-Produktionen praktisch und klappbar sein, damit sie in den hauseigenen Sprinter passen. Ausnahmen sind möglich – wie bei Eric Gauthiers erfolgreichem Tanzensemble.

Irgendwo im Theaterhaus ist immer etwas los

Irgendwo ist im Theaterhaus immer etwas los, wird hier eine Ausstellung eröffnet oder kicken in der Sporthalle gerade die Herren vom Daimler. Hier wird diskutiert, dort zeichnet das Fernsehen auf. Und im Foyer ist ohnehin immer Betrieb und nehmen die Damen und Herren am Telefon Kartenwünsche entgegen. Auf der Probebühne gehen jetzt aber erst einmal die Lichter aus. Ernst Konarek zieht sein Kostüm, eine Art Schlafanzug aus, packt den Kontrabass ein und schaltet das „scheußliche Neonlicht“ aus. Er probt seit Wochen auf der Probebühne mit der Regisseurin Silvia Armbruster – morgen Abend ist Premiere von „Der Kontrabass“ von Patrick Süßkind.

Der österreichische Schauspieler war viele Jahre im Ensemble des Staatstheaters engagiert. Jetzt ist Konarek eigentlich „Pensionist“ und hat im Theaterhaus seine neue künstlerische Heimat gefunden. „Das ist schon eine ganz tolle Geschichte“, sagt Konarek, „ich bin sehr, sehr gerne hier, alle sind fachlich sehr kompetent. Aber sonst würden sie das auch gar nicht schaffen“.

Spezialistentum gibt es hier nicht

Einer von diesen fachlich kompetenten Mitarbeitern ist Frank Rother. Er klettert gerade auf der gefährlich hohen Beleuchtungsbrücke über dem Zuschauerraum der riesigen Halle T 4 herum und richtet die Scheinwerfer ein für das Konzert der Füenf. Bunte Lichtkreise leuchten satt auf der Bühne – dort, wo später die fünf Sänger stehen werden. Sie sind eben erst mit ihren Sporttaschen und Rollkoffern im Theaterhaus eingelaufen. Pelvis ist erkältet und hat sich eine Thermoskanne Kräutertee mitgebracht, Dottore Basso zählt noch mal die CDs durch, die er in der Pause verkaufen wird. Die Füenf sind so oft im Theaterhaus zu Gast, das sie in der Garderobe ihre festen Plätze vor den Spiegeltischen haben. „Ich bin direkt neben dem Kühlschrank“, sagt Dottore Basso.

Aber es geht schon weiter zur Tonprobe und zum Einsingen. „Dadudada“ und „Mitlifekriiiise“ schmettern die Herren in den leeren Saal, während Christian Ticar hinter einem riesigen Pult im Zuschauerraum sitzt. Er ist der Leiter der Tontechnik, aber das heißt nicht viel – Spezialistentum gibt es im Theaterhaus nicht. Deshalb kann Ticar selbstverständlich auch ein Lichtpult bedienen. Später wird er bei Heike Feist vorbeischauen, die in der T 3 „Cavewoman“ spielt. Es ist eigentlich ein Gastspiel, aber Feist ist wie der „Caveman“ Martin Luding oder das Ensemble der Familie Flöz so eng mit dem Theaterhaus verwachsen, dass diese „Artists in Residence“ besonderen Service genießen: Ihre Kostüme werden frisch gewaschen in die Garderobe gehängt und die Techniker des Hauses begleiten ihre Vorstellungen. Wenn Ticar bei „Cavewoman“ das Licht fährt, braucht er keine Unterlagen mehr. Er kennt die Stichworte für die Lichtwechsel längst aus dem Effeff.

Auch auf der Bühne ist schon alles für „Cavewoman“ vorbereitet. Heike Feist ist trotzdem schon ein bisschen früher gekommen von ihrem Hotel vis-à-vis, weil sie die Klamotten und Requisiten auf der Bühne lieber selbst noch mal kontrolliert. „Jedes Kissen, jedes weggeworfene T-Shirt hat seinen festen Platz“, sagt sie, „das hat System, auch wenn es nicht so aussieht“. Heike Feist hat vor der Vorstellung ihr festes Ritual. 19.15 Uhr: Kostüm anziehen und schminken. 19.30 Uhr: einsprechen. Um 19.45 Uhr stellt sie sich hinter den Vorhang und horcht, wie das Publikum in den Saal kommt, ob es kichert oder ernst und stumm klingt. „So ein Abend hat eine Stimmung“, sagt sie, „darauf will ich mich einstellen.“

Vier Vorstellungen gleichzeitig

Gui Votteler hat dagegen einen kurzen Moment Zeit für einen Plausch. Für das Theaterstück „Agnes“ von der Freien Bühne Stuttgart ist bereits alles präpariert. Der Bühnenmeister ist eigentlich am Treffpunkt Rotebühlplatz angestellt, aber Gui Votteler betreut nebenher noch freie Theaterproduktionen. Es ist für ihn ein bisschen wie eine Heimkehr: Er war bei den Anfängen des Theaterhauses in Wangen im Team mit dabei. „Damals waren wir vielleicht fünf Leute in der Technik und es gab zwei Säle“, erzählt er, „heute ist alles größer, weiter, schneller“.

Und voller: das Foyer füllt sich bereits, schließlich finden heute gleich vier Vorstellungen parallel statt. Wie so oft. Werner Schretzmeier hat seine Pflichten als Abenddienst erst einmal getan und kann nun zurück ins Büro. Das ist der wichtigste Ort des Theaterhauses, nicht nur, weil hier das erfolgreiche Programm koordiniert wird, sondern weil die meisten Künstler sehr gern in der Pause vorbeischauen, um sich ihre Gage auszahlen zu lassen – und zwar ganz traditionell in bar.