Zehn Jahre Hospiz St. Martin: Bei ihrem Antrittsbesuch war die Schirmherrin Waltraud Ulshöfer, Ehefrau des Stuttgarter Oberbürgermeisters Kuhn, irritiert über die heitere Stimmung. Die letzte Lebensphase ist kostbar, aber nicht unbedingt traurig, sagt die scheidende Hospizleiterin Angelika Daiker.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Im Oktober verlässt Angelika Daiker nach zehn Jahren das katholische Hospiz St. Martin. Die Theologin hat das Haus in Stuttgart-Degerloch aufgebaut und geleitet. Waltraud Ulshöfer ist seit zwei Jahren Schirmherrin und lernt bei jedem Besuch dazu. Ein Gespräch über Bäume, Leistungsstreben und die überraschend gelassene Haltung der Hospizgäste.

 
Frau Daiker, Frau Ulshöfer, Sie wollen hier an der Jahnstraße einen Baum pflanzen. Was hat es damit auf sich?
Angelika Daiker An der Stelle stand lange Zeit eine riesige alte Rotbuche. Weil sie krank war, mussten wir sie fällen. Das war auch für die Degerlocher schlimm. Der Baum hat einfach zum Haus gehört. Auch für die alte Dame, die in der Villa aufgewachsen ist, an deren Stelle jetzt das Hospiz steht. Sie hat mir, als sie zu uns zum Sterben kam, erzählt, dass sie sich in der Rotbuche oft versteckt hat, um zu lesen.
Waltraud Ulshöfer Das ist eine berührende Geschichte. Sie kam dorthin zurück, wo ihr Zuhause war. Das war für sie offenbar klar: Das ist mein Lebenskreis. Ich gehe dahin zurück, wo er begonnen hat.
Daiker Der Baum war wie ein Wächter für das Hospiz. Und er hat uns mit den Geschichten der Menschen verbunden, die vor uns an diesem Ort gelebt haben. Bäume haben ja etwas Langlebiges, Lebensspendendes, etwas Tröstliches. Es werden hier noch ganz viele Menschen sterben – und die Bäume werden wachsen.
Ulshöfer Ich habe in der Zeit im Hospiz gelernt, welche Kraft in solchen Ritualen steckt. Einen Baum pflanzen, das bedeutet Leben schöpfen, etwas gestalten. Es bedeutet auch, nach vorne zu blicken. Und es bedeutet, Vergänglichkeit mit dem Leben zusammen zu denken. Nur so kann man ja begreifen, dass der Tod eben nicht einfach nur Ende ist. Erst wenn wir die Endlichkeit des Lebens verstehen, können wir auch den Lebenssinn verstehen.
Haben Sie das hier gelernt?
Ulshöfer Ja, das sind die kostbaren Erkenntnisse aus den Begegnungen und den Gesprächen hier im Hospiz. In diesem Haus geht es um mehr, als nur jemanden bis zu seinem Lebensende zu pflegen und zu beschützen.
Sind Rituale am Lebensende wichtig?
Daiker Ja. Ich weiß, dass die Rituale, mit denen wir die Menschen hier verabschieden, den Angehörigen als starker Trost bleiben. Einmal hat jemand in unser Gästebuch geschrieben: „Hier hat der Tod für mich seinen Schrecken verloren.“ Es ist immer schmerzlich, wenn jemand geht, und es ist traurig. Aber Menschen können damit leben, wenn sie gut Abschied nehmen konnten. Schwer wird es, wenn es unwürdig und unter Schmerzen geschieht oder durch Mord, Suizid oder Unfall.
Ulshöfer Viele sind ja auch einfach hilflos, wenn sie wissen, dass jetzt ihr Leben zu Ende geht. Sie suchen nach Halt, nach einem Anker. Ich bin überzeugt, dass die Formen, die man im Umgang mit den Menschen findet, ein ganz großer Halt sein können. Die Abschiedsformen noch viel mehr. Sie schützen vor der Einsamkeit. Das ist die große Kraft, die hier im Haus entwickelt wird. Man spürt, dass nichts nur mit Routine abgespult wird. Jedem einzelnen Gast wird ganz individuell Aufmerksamkeit und Zuwendung geschenkt. Damit ist das jeweilige Lebensende auch etwas ganz Individuelles.
Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit den Themen Tod und Sterben?
Daiker Meine Großeltern waren schon tot, als ich geboren wurde. Das war präsent, wurde aber als Thema eher gemieden. Als bei uns im Dorf eine Leichenhalle gebaut wurde, war das für mich als kleines Mädchen schrecklich, denn ich musste jeden Tag an ihr vorbei. Allerdings war mein Vater Schreiner und damit auch der Bestatter am Ort. Er hat einen großen Anteil an meinem Weg. Zu erleben, wie er 1989 im Krankenhaus gestorben ist, hat mich zur Hospizbewegung gebracht.
Ulshöfer Als ich 18 Jahre alt war, ist meine Oma gestorben, an der ich sehr hing, weil sie Geschichten erzählte und mir Zeit schenkte. Sie war religiös, und ihr Glaube hat ihr immer geholfen, ihr Leben zu bewältigen. Als sie im Sterben lag, war sie es, die mich getröstet hat. Ich war verzweifelt, und sie hat gesagt: „Das ist jetzt nicht schlimm.“ Sie ist mit ungeheurer Stärke und Ruhe aus ihrem Leben gegangen. Das fand ich atemberaubend. Sie hat mir den endgültigen Abschied erleichtert mit ihrer heiteren Gelassenheit.