Vor zehn Jahren wurde in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen – mutmaßlich von den Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Warum die junge Beamtin sterben musste, ist bis heute ein Rätsel geblieben.

Heilbronn - Am 25. April 2007 ist das Leben in Heilbronn von der einen Minute auf die andere stehen geblieben. „Wir waren alle wie in einer Schockstarre“, sagt der Oberbürgermeister Harry Mergel (SPD). Wie gelähmt waren die Heilbronner, weil die Nachricht die Runde machte, dass auf der Theresienwiese eine Polizistin erschossen und ihr Kollege angeschossen worden sei. „Das galt aber nicht nur psychisch, sondern auch rein faktisch“, erzählt Mergel. Die Polizei hatte sofort nach dem Auffinden der Leiche von Michèle Kiesewetter und ihres lebensgefährlich verletzten Kollegen Martin A. sämtliche Ausfallstraßen abgeriegelt. Die Stadt glich einem gigantischen Parkplatz. Am kommenden Dienstag wird mit einer Gedenkfeier an jenen 25. April 2007 erinnert.

 

Wen man fragt – jeder Heilbronner erinnert sich an den Tag, an dem die Stadt stillstand. Der 78-Jährige, der am Neckar spazieren geht, hat damals als Medikamentenausfahrer nebenher noch ein bisschen Geld verdient. Die junge Mutter, die in der Stadtgalerie einen Cappuccino holt für sich und ihre Freundin, „ist im Stau gestanden wie alle anderen auch“.

Harry Mergel Foto: Kimmerle

Harry Mergel saß zusammen mit dem Stadtsprecher Christian Britzke am Besprechungstisch im Amtszimmer des Oberbürgermeisters, der damals noch Helmut Himmelsbach hieß. Alle rätselten, wer am helllichten Tag auf einem rege genutzten Park- und Festplatz entlang eines viel belebten Fuß- und Radweges auf zwei Polizisten schießt – und damit einfach so davonkommt. Harry Mergel war damals Ordnungsbürgermeister. Doch in Ordnung war in Heilbronn nach dem Mord eine ganze Weile nichts mehr.

Immerhin wusste man vier lange Jahre und sieben Monate nicht, wer die 22-jährige Polizistin ermordet hatte. Als „Jahre der Unsicherheit“ bezeichnet Mergel diese Zeit. Drei einschneidende Ereignisse habe seine Stadt nach dem Krieg erlebt: das Dachstein-Unglück 1954, als zehn Schüler und drei Lehrer bei einer Bergwanderung den Tod fanden. Die Explosion der ersten Stufe einer Pershing-II-Rakete der US-Truppen auf der Waldheide, bei der drei Soldaten starben – und eben die Ermordung von Michèle Kiesewetter. „Das hat die Wahrnehmung der Stadt beeinträchtigt, nach innen und nach außen“, davon ist der Oberbürgermeister überzeugt.

Eine von 3700 Spuren

Mit dem Auffliegen der NSU-Terrorzelle im November 2011 haben wenigstens die mutmaßlichen Täter ein Gesicht bekommen: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Seit dem 25. April 2012 erinnert eine Bronzetafel an der Theresienwiese an alle Opfer dieser neonazistischen Verbrecher. Nein, sagt Franz Maier (Name geändert), ein Rentner, der die Gedenktafel passiert, er habe kein beklommenes Gefühl mehr, wenn er hier entlanggehe.

Vor zehn Jahren war Maier mit dem Auto auf dem Heimweg von der Arbeit – und blieb bei der Theresienwiese stecken. Über Schleichwege kam er schließlich zu Hause an. Unterwegs wurde er dabei fotografiert. Einige Tage später bekam Maier Besuch von der Kriminalpolizei: Die Beamten wollten wissen, was er an dem Festplatz gemacht habe. „Denen habe ich gesagt, das bringt euch keinen Meter weiter“, erzählt der 68-Jährige.

Damals war Maier aber eine von knapp 3700 Spuren, die die Soko „Parkplatz“ untersucht hat – und von denen die meisten die bis zu 50 Beamten tatsächlich keinen Meter weitergebracht haben. Eine Spur aber war vielversprechend, die DNA einer unbekannten weiblichen Person. Diese – im Polizeijargon – UWP schien an vielen Orten ihr Unwesen zu treiben, an mehr als 40 Tatorten in Deutschland, Österreich und Frankreich hatte sie ihre genetischen Fingerabdrücke hinterlassen. Doch die Polizei jagte ein Phantom. Die DNA stammte von einer Mitarbeiterin der Firma, die die Wattestäbchen für die Beweissicherung produziert hatte.

War Kiesewetter wirklich nur ein Zufallsopfer?

Über die Ermittler brach eine Welle der Kritik herein, in den Medienberichten war von „Pannen“ die Rede und von „schlampiger Recherche“ – Vorwürfe, die die Polizisten tief getroffen haben. Manche Ermittler von damals sind heute im Ruhestand, manche macht die Erinnerung an damals wütend, anderen kommen die Tränen, wenn sie darüber sprechen. „Einige Kollegen“, sagt die Polizeisprecherin Yvonne Schmierer, „hat dieser Fall krank gemacht.“

Immer wieder hatte man unbenutzte Wattestäbchen als Leerprobe ans Labor geschickt, eben um sicherzugehen, dass nicht das Material selbst verunreinigt ist. „Wie der Teufel so will, war an denen aber keine DNA“, erzählt Yvonne Schmierer.

Die tote Kollegin ist unvergessen. Jedes Jahr am 25. April gedenkt die Heilbronner Polizei an der Theresienwiese Michèle Kiesewetter. „Die Frage nach dem Warum beschäftigt uns bis heute“, sagt Hans Becker, der stellvertretende Polizeipräsident.

Clemens Binninger Foto: dpa

Die offenen Fragen kennt kaum einer so gut wie Clemens Binninger. Der CDU-Bundestagsabgeordnete aus Böblingen sitzt im Café des Stuttgarter Schlossgartenhotels und bestellt eine Nusstorte. Bevor er im Herbst nach vier Legislaturperioden abtritt, macht ihn der Jahrestag noch einmal zu einem gefragten Mann. Im ersten Untersuchungsausschuss zu den NSU-Morden fungierte er als Obmann seiner Fraktion. Im zweiten U-Ausschuss rückte er zum Vorsitzenden auf. Jetzt ist der ehemalige Polizeikommissar dabei, den Abschlussbericht zusammenzustellen. Es dürfte ein Werk mit 1000 Seiten werden. Eines steht für Clemens Binninger fest: „Es wurde mit hohem Aufwand in die falsche Richtung ermittelt.“

Viele Fragen sind unbeantwortet

Dabei habe es schon früh Hinweise darauf gegeben, dass die Tat von der Theresienwiese mit der ungeklärten Mordserie an türkischen und griechischen Geschäftsleuten zusammenhing. Ausgerechnet Kiesewetters Patenonkel, ein Polizist beim Staatsschutz in Thüringen, äußerte schon wenige Wochen nach der Tat diese Vermutung. Doch worauf seine Feststellung fußte, ließ sich später nicht mehr klären – wie so vieles in diesem Fall.

Es sind Fragen und Zweifel, die Binninger beschäftigten: War Kiesewetter wirklich nur ein Zufallsopfer, wovon die Ermittler des Bundeskriminalamtes bis heute überzeugt sind? Warum musste sie, die so gar nicht ins Opfermuster des NSU passte, sterben? Warum wurde sie als Einzige der Mordserie mit einer anderen Waffe erschossen? Wer waren die unbekannten Männer, die nach übereinstimmenden Zeugenaussagen kurz nach der Tat blutverschmiert in einem blauen Audi mit Mosbacher Kennzeichen flüchteten, während das Wohnmobil von Böhnhardt und Mundlos zur gleichen Zeit eine polizeiliche Zählstelle in Oberstenfeld im Kreis Ludwigsburg passierte? Und von wem stammt die DNA, die an den Oberkörpern von Kiesewetter und ihrem angeschossenen Kollegen gefunden wurde, und die bisher niemandem – auch nicht den beiden NSU-Tätern – zugeordnet werden konnte?

Für Binninger ist der Fall zu einer Zäsur geworden. „Er zeigt, wo es bei der Zusammenarbeit unserer Ermittlungsbehörden hakt und wie der gewaltbereite Rechtsextremismus falsch wahrgenommen worden ist.“ Die Probleme seien keineswegs behoben, sagt der Politiker. Bei der Bekämpfung des radikalen Islamismus erlebe er gerade ein Déjà-vu. Bezüglich des Falles Kiesewetter klingt sein Fazit desillusioniert. „Man muss akzeptieren, dass manche Fragen nicht zu klären sind.“