Der favorisierte Zehnkämpfer vom VfB Stuttgart verpasst bei den Sommerspielen in Paris die Chance auf Olympia-Gold, bringt aber Platz zwei sicher ins Ziel – und ist damit sehr zufrieden.
Am Ende sah es kurz so aus, als würde Leo Neugebauer womöglich sogar die Kraft zum Jubeln fehlen. Doch dann streckte der Zehnkämpfer vom VfB Stuttgart doch noch seine muskelbepackten Arme in den wolkenverhangenen Nachthimmel über dem Stade de France in Paris. Womit auch die Frage beantwortet war, ob er Gold verloren oder Silber gewonnen hatte: Leo Neugebauer (24) kann mit Platz zwei bei seiner Olympia-Premiere sehr gut leben.
„Es war eine unbeschreibliche Atmosphäre in diesem Stadion“, sagte Neugebauer nach der Ehrenrunde des kompletten Feldes, „ich habe das Beste draus gemacht, Silber bei Olympia ist doch nicht schlecht. Meine Leistung war sehr solide, ich kann mich nicht beschweren.“ Und: „Ich habe alles gegeben, mein Ding gemacht, eine Medaille gewonnen – mehr braucht man nicht.“
Im Zehnkampf, heißt es, sei die achte Disziplin die wegweisende. Das galt auch für den olympischen Wettbewerb in Paris – denn nach dem Stabhochsprung ergaben die Hochrechnungen, dass Leo Neugebauer, der nach Tag eins noch an der Spitze gelegen hatte, kaum noch eine Chance auf Gold haben würde. Und das, obwohl sich gerade zwei seiner größten Konkurrenten aus dem Medaillenrennen verabschiedet hatten. Damian Warner (Kanada) und Sander Skotheim (Norwegen) scheiterten bereits an ihrer jeweiligen Anfangshöhe, blieben folglich ohne Punkte. Dafür sammelte einer, den niemand auf der Rechnung gehabt hatte, umso mehr Guthaben.
Beeindruckender Lauf des Norwegers
Markus Rooth, der U-23-Europameister aus Norwegen, steigerte seine persönliche Bestleistung um 20 (!) Zentimeter. Leo Neugebauer lag nach dem Stabhochsprung, in dem er 5,00 Meter geschafft hatte, zwar immer noch in Führung, allerdings nur noch mit 139 Punkten. Die Vorleistungen im Speerwerfen und über die abschließenden 1500 Meter deuteten auf ein ganz enges Rennen zwischen ihm und Markus Rooth hin. Das es dann allerdings doch nicht wurde.
Denn der beeindruckende Lauf des Norwegers hielt an. Mit dem Speer schaffte Rooth eine weitere persönliche Bestleistung (66,87 Meter), seine siebte schon, und übernahm damit erstmals in der Gesamtwertung die Führung vor Neugebauer (56,64 Meter) – angesichts des Rückstands von 16 Punkten und dessen Schwächen über die 1500-Meter-Strecke war Gold so gut wie weg, stattdessen musste der Athlet vom VfB Stuttgart, der in Leinfelden-Echterdingen aufgewachsen ist, plötzlich sogar um Silber fürchten: Lindon Victor aus Grenada lag zu diesem Zeitpunkt nur noch 46 Zähler zurück.
Die 1500 Meter wurden für Leo Neugebauer dann länger und länger. Schnell war klar, dass er nicht vor dem Norweger ins Ziel kommen würde, also konzentrierte er sich darauf, Lindon Victor nicht ziehen zu lassen – was ihm auch gelang. Letztlich siegte Rooth mit 8796 Punkten vor Neugebauer (8748) und Victor (8711).
Kein perfekter Wettkampf
Für Leo Neugebauer blieb ein zweiter Platz, den der stets positiv denkende Zehnkämpfer mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm. Es blieb aber auch die Erkenntnis, dass bei diesen Olympischen Spielen mehr drin gewesen wäre – viel mehr. Denn es fehlten ja nicht nur Weltrekordhalter Kevin Mayer (Frankreich) und Weltmeister Pierce LePage (Kanada), es fehlten im Finale auch Warner und Skotheim. Und es fehlten Neugebauer zudem 213 Punkte auf seinen deutschen Rekord von 8961 Zählern, den er Anfang Juni bei den US-Collegemeisterschaften aufgestellt hatte. In Paris gelang es ihm nicht, an diese Form anzuknüpfen, lediglich im Weitsprung stellte er mit 7,98 Metern eine Saisonbestleistung auf. In manchen Disziplinen ließ er ungewohnt viele Punkte liegen, war teils (zu) weit entfernt von seinen persönlichen Bestmarken.
Andererseits waren die Olympischen Spiele nach der WM 2023 erst sein zweiter Wettkampf auf der ganz großen Bühne. Nach Platz fünf vor einem Jahr in Budapest sagte er, dass er ganz sicher aus seinen Fehlern lernen werden würde. Und auch diesmal gilt: Leo Neugebauer hat nicht nur Silber gewonnen, sondern auch enorm viel Erfahrung – die ihm in seiner weiteren Karriere helfen wird. Womöglich ja auch bei den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles.