Eine Freiburger Firma hat vor 100 Jahren mit einer raffinierten Technik das Klavierspiel großer Meister wie Mahler und Debussy auf Papierrollen aufgenommen. Ein Stuttgarter sorgt dafür, dass die Musik noch heute zu hören ist.

Stuttgart - Wenn Hans-W. Schmitz eine Papierrolle in sein automatisches Klavier einlegt, ist das fast wie eine heilige Handlung. Dann noch ein, zwei Schalter umgelegt und die 100 Jahre alte Rolle mit den akkurat gestanzten Löchern setzt sich in Bewegung. Ein kurzes Rauschen - dann bewegen sich die Klaviertasten wie von Geisterhand. Es erklingt Moritz Moszkowskis „La Jongleuse“, gespielt vom berühmten Josef Hofmann, aufgenommen am 20. Oktober 1905.

 

„Das Besondere: Die Töne kommen nicht aus einem Lautsprecher, es gibt keine Boxen und keinen Trichter“, sagt der 73-jährige Schmitz. „Hier spielt das Instrument selbst - und zwar genau so, wie der Pianist seinerzeit gespielt hat.“ Offiziell nennt Schmitz sein Instrument „Reproduktionsklavier“.

Auf den ersten Blick ähneln die Papierrollen etwas breit geratenen Lochstreifen. Entwickelt hat die Technik die Freiburger Firma „M. Welte & Söhne“, 1904 wurde das „Welte-Mignon“-Verfahren patentiert - lange bevor die Schallplattentechnik ihren Siegeszug antrat. Die Medien hätten das seinerzeit als „neues Weltwunder“ gefeiert, schreibt die Fachzeitung „Audio“ (Stuttgart). Mit dem Verfahren konnten erstmals „alle Feinheiten des persönlichen Spiels von Pianisten aufgenommen und wiedergegeben werden“. Pianisten hätten so zum ersten Mal ihr Spiel selbst hören können, sagt Schmitz. „Sie haben dabei sogar eigene Fehler entdeckt.“

Eine musikhistorische Rarität

Schmitz, gelernter Architekt, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der sogenannten Welte-Mignon-Technik und gilt als Koryphäe in seinem Metier. Erst im vergangenen Herbst organisierte er ein Konzert in der Berliner Philharmonie, der erste Satz der 5. Symphonie von Gustav Mahler wurde auf dem Reproduktionsklavier präsentiert - eine von nur vier Aufnahmen, die der Meister im November 1905 selbst eingespielt hatte. Eine musikhistorische Rarität sozusagen. Anschließend wurde die ganze Symphonie vom Berliner Konzerthausorchester live gespielt. Das Publikum sei begeistert gewesen. „Bei den Konzerten gebe ich in den Pausen Erläuterungen zur Welte-Technik.“

Schmitz ist ein nüchterner Mann, er stammt aus Dortmund, fußballerisch ist er noch heute Dortmund-Fan. Ersten Kontakt mit dem Reproduktionsklavier hatte er vor 45 Jahren, wie er erzählt. „Nach dem Studienabschluss in Stuttgart wollte ich mir ein Klavier kaufen. Durch reinen Zufall erstand ich ein Instrument mit einem eingebauten Welte-System.“ Zwar funktionierte es nicht - doch der Technik-Freak und Ingenieur Schmitz hatte Feuer gefangen. Er recherchierte, besuchte die Erbin der Firma Welte in Freiburg, die eine Papierrolle in ihren Steinway-Flügel einlegte. Es war der „Liebestraum“ von Franz Liszt. „Plötzlich bewegten sich die Tasten, doch ich sah keinen Pianisten. Mir lief es kalt den Rücken hinunter.“ Das sei ein Schlüsselerlebnis für ihn gewesen.

Allein die Wiedergabe-Technik ist ihm zufolge hoch kompliziert. „Die Rollen werden von einem pneumatischen Motor über eine Abtastleiste gezogen und mit Unterdruck abgelesen. Jedes Loch in der Rolle führt zu einem Druckabfall, dadurch wird ein Ventil geöffnet. Dieses leitet Vakuum auf einen Blasebalg, der schließlich die Klaviertasten bewegt.“ Sogar die entscheidende „Anschlagsdynamik“ - wie stark der Pianist auf die Tasten drückt - werde durch separate Lochungen berücksichtigt. Noch komplizierter sei aber die damalige Aufnahmetechnik gewesen. „Diese ist bis heute nicht völlig enträtselt“, sagt Schmitz.

Die Technik droht zu verschwinden

Das Abspielen der alten Rollen ist wie ein Blick in die Musikgeschichte. Die Tatsache, dass es dadurch „hörbare Belege“ aus der Vor-Schallplattenzeit gibt, sei gar nicht hoch genug einzuschätzen, meint Andreas Spreer von der Tacet-Musikproduktion in Stuttgart. Der Musikverlag gibt zahlreiche CDs mit Welte-Technik Rollentechnik heraus - mit Unterstützung des Experten Schmitz. „Bei Gustav Mahler etwa hört man beinahe einen Geist über den Tasten schweben“, sagt Spreer.

Das Problem: Die Welte-Technik droht vollends in Vergessenheit zu geraten. Immer weniger Menschen kennen sich mit dem komplizierten Einstellen der Apparate aus, immer weniger können Reparaturen vornehmen, sagt Schmitz. Nur noch etwa drei, vier Menschen kennen sich ihm zufolge mit der Technik so gut aus wie er. Mehr als 4000 Welte-Apparate seien bis 1931 produziert worden. „Kaum 230 sind europaweit erhalten geblieben.“

Gemeinsam mit einem Co-Autoren hat Schmitz einen Katalog aller Welt-Rollen erstellt. Alles in allem gebe es 5000 Musiktitel, eingespielt unter anderem von Meistern wie Edvard Grieg, Maurice Ravel, Richard Strauss und Vladimir Horowitz. Schmitz nennt das „ein Zeitfenster der Musikgeschichte“.