Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die protestantische Ethik, im Südwesten der Pietismus, bei der Idee, das Letzte aus einem Tag herausholen zu müssen?
Die protestantische Ethik, die Max Weber als eine der Haupttriebfedern des Kapitalismus benannt hat, ist ja gar nicht so sehr eine Geld- als vielmehr eine Zeitsparethik. Weber zitiert nicht von ungefähr Benjamin Franklin mit dem Satz: „Bedenke, dass Zeit Geld ist.“ Inzwischen geht das viel weiter: Wer unter dem Weihnachtsbaum entspannen will, dem könnte einfallen, dass Zeit heute auch Bildung ist – man sollte endlich mal Shakespeare lesen – oder Beziehung – man sollte einem alten Freund schreiben – oder Fitness – man sollte dringend joggen gehen. Diese Steigerungsidee des Nie-genug ist tatsächlich eng verknüpft mit der protestantischen Ethik.
Sind wir denn nicht trotzdem alle längst Hedonisten?
Ich glaube eher, dass sich diese genannte Haltung komplett generalisiert hat. Sich nicht zu disziplinieren gilt ja inzwischen schon unter jungen Menschen als verwerflich. Man muss nur mal schauen, wie viele Leute heute Marathon laufen oder Triathlon betreiben, also systematische Selbstquälung. Das ist ja fast noch absurder als das mittelalterliche Geißeln.
War der deutsche Südwesten bei der Disziplinierung immer mit vorne dran, durch frühe Industrialisierung, Rationalisierung?
Für lange Zeit war durch Lebenseinstellung und Bildung der wirtschaftliche Erfolg in protestantischen Gegenden ja auch höher als anderswo. Ich denke, der Preis dafür war, dass man tendenziell resonante oder poröse Weltbeziehungen in stumme transformiert hat. Bestimmend dabei war die Idee, dass das Göttliche nicht in der Welt, sondern hinter der Welt ist, also abwesend im Alltag. Das hat eine gewisse Entzauberung stärker befördert als in den katholischen Gegenden. Andererseits muss man sagen, dass in protestantisch geprägten Gebieten, man denke nur an die Erfolge der Grünen in Land und Städten in Baden-Württemberg, das Bewusstsein für die Einseitigkeit dieser Welthaltung schneller wächst als anderswo, und damit auch der Wille und die Bereitschaft, dagegen zu protestieren. Und Religion eröffnet da für manchen auch die Möglichkeit der Resonanzerfahrung, der Erfahrung, dass er nicht einer feindlichen und schweigenden Welt gegenübersteht, sondern einer antwortenden Welt.
Was wünschen Sie sich persönlich für das neue Jahr, rein zeitlich betrachtet?
Ich glaube, fast jeder würde sagen, ich würde mir mehr Zeit wünschen. Aber hätten wir mehr Zeit, würden wir sie wahrscheinlich auch wieder füllen. Vielleicht wäre deshalb das, was man als Gelassenheit bezeichnet, eine gute Voraussetzung dafür, Resonanzerfahrungen zu machen. Und davon können wir wohl alle mehr brauchen.