Wo sind nur die Tage, Wochen, Monate, Jahre hin, fragt man sich. Hartmut Rosa hat die Antwort darauf, er ist Zeitforscher.

Grafenhausen - - Hartmut Rosa ist im Schwarzwald groß geworden. Beim Pendeln zwischen westlichen Metropolen und seinem Heimatdorf fand er später sein Forschungsthema, das inzwischen nicht nur am Jahresende viele Menschen beschäftigt: Warum scheint die Zeit heutzutage aus den Fugen zu sein? Rosa lehrt in Jena und Erfurt, ist Gastprofessor an der New School University in New York und hat kürzlich Bundespräsident Gauck auf dessen Frankreichreise begleitet. Obwohl er mit seinen Thesen zur Bedingung des Menschseins im 21. Jahrhundert international gefragt ist, bleibt Grafenhausen in der Nähe von Waldshut-Tiengen sein Bezugspunkt und Inspirationsort.
Herr Rosa, Sie beschäftigen sich als Wissenschaftler intensiv mit der ständigen Beschleunigung des Lebens. Sagen Sie in diesen Tagen trotzdem wie alle anderen: „Wo ist denn nur die Zeit geblieben?“
Ja, ich glaube schon. Man kann sich als Zeitforscher vielleicht besser erklären als andere, warum man das Gefühl hat, das Jahr hätte gerade erst angefangen, aber ich habe das für mich keineswegs gelöst. Es ist eher andersherum: gerade weil ich sämtliche Hamsterradeffekte kenne, beispielsweise das Gefühl, dass einem die Zeit förmlich unter den Händen zerrinnt, kann ich solche Dinge gut analysieren.
Die persönliche Erfahrung ist eine Sache. Was aber ist gesamtgesellschaftlich passiert, dass sich viele Menschen inzwischen als gehetzt empfinden?
Soziologisch betrachtet kann man sagen, dass unsere Gesellschaft sich nicht anders stabilisieren kann als durch Steigerung. Das heißt, sie muss permanent wachsen, beschleunigen, Innovationen hervorbringen, damit wir unser Level in Marktwirtschaft, Demokratie und Institutionen halten können. Wir können aber alles Mögliche steigern, Produktion, Kommunikation und so weiter. Nur Zeit nicht, die können wir nur verdichten. Das führt zu einem Beschleunigungseffekt beziehungsweise zu dem Gefühl, dass Zeit knapp ist.
Und was bewirkt das psychologisch?
Uns bleiben nur die Dinge in Erinnerung, die eine Spur hinterlassen, die sich mit unserer Identität vermischen. Wenn alles ganz schnell passiert, uns äußerlich bleibt, dann wird keine Gedächtnisspur angelegt, es kommt uns alles routiniert vor. Und so haben wir am Ende des Jahres das Gefühl, es hätte doch gerade erst angefangen.
Das Versprechen der Moderne lautete bis vor Kurzem, dass Technik und Rationalisierung den Menschen immer mehr Freiräume schenken. Wann entwickelte sich, was Sie Beschleunigungs-Totalitarismus nennen?
Das ist einerseits ein langer Prozess, der sich seit dem 18. Jahrhundert beobachten lässt. Aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sind uns Wachstum und Beschleunigung nicht als Stillstand erschienen, sondern als Bewegung, verknüpft mit der Hoffnung, dass durch den Fortschritt alles besser wird. Dass er Menschen hilft, frei und selbstbestimmt zu leben. Schleichend hat sich der Beschleunigungs-Totalitarismus im Laufe des 20. Jahrhunderts und richtig spürbar im Alltag seit den neunziger Jahren entwickelt. Den letzten Schub, der das Ganze hat kippen lassen, brachten nach dem Fall der Mauer Globalisierung und Digitalisierung. Erst durch diese politische und technische Revolution sind Datenströme, Finanzströme, Warenströme, auch Menschenströme über den gesamten Globus, bei versiegelten europäischen Grenzen möglich geworden.
Wie hat sich das ausgewirkt?
Das ergab zunächst unglaubliche Innovations-, Wachstums- und Beschleunigungsraten. Aber durch die heftigen Krisen glauben wir inzwischen nicht mehr, dass wir durch die stetige Steigerung die Knappheit überwinden können. Und wir glauben auch nicht mehr, dass wir durch Erfindung besserer Zeitspartechniken die Zeitnot überwinden und selbstbestimmter leben können.
Hat sich die Perspektive in der Spätmoderne also umgedreht?
Ich denke schon, Beschleunigung geht jetzt mit Erstarrung zusammen, Optimismus ist einem gewissen Pessimismus gewichen. Wir müssen derzeit alles tun, um unseren Platz zu halten, um wettbewerbsfähig zu sein. Man kann das daran festmachen, wie Eltern ihre Situation und die ihrer Kinder wahrnehmen. Bis vor Kurzem haben sie aus dem Gefühl heraus gelebt, dass sie sich anstrengen, damit die Nachkommen einmal ein besseres Leben haben. Heute ist das dem Existenzgefühl gewichen, dass man alles tun muss, was man kann, damit es den Kindern nicht schlechter geht.