Der britische Funkentschlüsselungsdienst in Bletchley Park hatte seit dem Herbst 1941 Tausende von Funksprüchen Klatts aus Sofia nach Wien entschlüsseln können, mit denen „Max-Meldungen“ über die Lage und Belegung sowjetischer Flugplätze und Bewegungen sowjetischer Truppen sowie „Moritz-Meldungen“ aus dem britischen Einflussgebiet im Nahen Osten übermittelt worden waren. Trotz sorgfältigster Analyse der Funksprüche hatten aber die Analytiker des britischen Funkabwehrdienstes weder die Quellen dieser Meldungen noch die wahre Identität des Lieferanten der Meldungen, des geheimnisvollen deutschen Agenten Klatt, feststellen können.

 

Während wegen der „Moritz-Meldungen“ fieberhaft nach einem Informationsleck bei den britischen Stellen in Nordafrika und im Nahen Osten gefahndet wurde, fühlten sich die Briten wegen der „Max-Meldungen“ eigentlich verpflichtet, den sowjetischen Bündnispartner auf die vermeintliche Lücke in dessen Sicherheitssystem hinzuweisen. Eine solche Warnung kam aber nicht in Frage, weil dem problematischen Alliierten Stalin verborgen bleiben sollte, dass die Briten inzwischen den deutschen Funkverkehr einschließlich der Funkverbindungen des Nachrichtendienstes der Wehrmacht mitlesen konnten.

Nachdem die sowjetischen Stellen auf sehr dezente Hinweise auf in der Sowjetunion aktive deutsche Agenten nicht reagiert hatten, gingen die Briten deswegen davon aus, dass es sich bei den „Max-“ und möglicherweise auch bei den „Moritz-Meldungen“ um den Deutschen vom sowjetischen Geheimdienst untergeschobenes Desinformationsmaterial handelte. Aber auch für diese These gab es keine Beweise.

Der unverhofft aufgetauchte Flüchtling Mirko Rot offerierte dem britischen Geheimdienst nun nicht nur Informationen aus erster Hand über den Luftmeldekopf Südost in Sofia, dessen Arbeitsweise und dessen Leiter Klatt, sondern auch eine Möglichkeit, den Verpflichtungen gegenüber dem sowjetischen Alliierten gerecht zu werden, ohne allzu viel Wissen über die eigenen Möglichkeiten preiszugeben.

Dreizehn lange Verhöre durch den Security Service

Die Rots waren am 22. Februar 1943 in London eingetroffen, in einem noblen Hotel untergebracht und dort von Beamten des britischen Security Service vernommen worden. Da diese aber Mirko Rots Darstellung, lediglich auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit in Kontakt zum deutschen Geheimdienst geraten zu sein, für unglaubwürdig hielten, wurde Rot Ende Februar 1943 ins „Camp 020“, das geheime Vernehmungszentrum des Security Service im Latchmere House südwestlich von London, gebracht. Erst nachdem er dort zwischen dem 6. März und 10. April dreizehn vielstündigen Verhören unterzogen worden war, war der Security Service von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt.

Wenig später aber fahndete die ungarische Polizei nach ihm, die durch die Rückverfolgung einer Geldsendung an einen in einem kroatischen KZ inhaftierten Verwandten auf seine Spur gekommen war. Da die Beschaffung der Visa für die Reise nach Portugal noch dauern würde, beschlossen Kleer und Gross, Mirko Rot zunächst bei einer Dienststelle der Abwehr in Sofia, dem Luftmeldekopf Südost, zu verstecken, wo Rot sich als V-Mann Busses von der Stuttgarter Abwehrstelle ausgeben sollte. Sie machten Rot mit Josef Baumruck bekannt, dem Faktotum des Luftmeldekopfes Südost, in dessen Begleitung Mirko Rot am 22.     September 1942 nach Sofia reiste.

Der Luftmeldekopf Südost war im Auftrag der Wiener Abwehrstelle von einem V-Mann mit dem Decknamen Klatt aufgebaut worden. Der Wiener Immobilienmakler Richard Kauder war Anfang 1940 unter dem Decknamen Klatt in die Dienste der Abwehrstelle Wien getreten, um sich und seine Mutter Laura Kauder vor Verfolgung zu schützen, da beide, obwohl Katholiken, nach den NS-Gesetzen als „Volljuden“ galten. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion hatte Klatt aus Sofia einen ständig wachsenden Strom von Nachrichten aus dem Hinterland der sowjetischen Front an die Wiener Außenstelle des Nachrichtendienstes der Wehrmacht geliefert. Die Informationen stammten angeblich von einem Agentennetz, das die Organisation des exilrussischen Generals Anton Turkul schon in den 20er Jahren in der Sowjetunion haben sollte.

Der V-Mann Klatt

Klatts als „Max-Meldungen“ bezeichnete Nachrichten von der Ostfront erfreuten sich einer immer größeren Wertschätzung durch die Generalstäbe von Luftwaffe und Heer, und Oberst Reinhard Gehlen, Chef der Abteilung Fremde Heere Ost, war in seinen Analysen des sowjetischen Gegners von ihnen geradezu abhängig.

Da seine Nachrichten als „kriegswichtig“ galten, genoss der V-Mann Klatt etliche Privilegien und konnte seine Dienststelle in Sofia personell immer weiter ausbauen. Dabei engagierte er ausschließlich Personal, das wegen jüdischer Herkunft, Homosexualität oder politischer Unzuverlässigkeit Probleme mit NS-Behörden hatte, so auch Josef Baumruck, der als „jüdischer Mischling“ galt. Als Gegenleistung für Klatts Nachrichten hatte die von Oberst Rudolf von Marogna-Redwitz, einem katholisch-konservativen NS-Gegner aus Bayern, geleitete Abwehrstelle Wien mehrfach die Deportation Laura Kauders verhindert. Als das nicht länger möglich schien, hatte Marogna-Redwitz sie in das zu dieser Zeit für Juden noch relativ sichere Budapest bringen lassen, wo sie in einer Wohnung von Josef Baumrucks ungarischer Verlobter betreut wurde.

In Sofia freundete sich Mirko Rot schnell mit Baumruck an, über den er auch etliche Mitarbeiter es Luftmeldekopfes Südost kennenlernte, darunter die Chiffriererin Grete Dostal, die Rot später als „nicht gerade schön, aber vielleicht attraktiv“ beschrieb. Rot, der seine jüdische Herkunft in Sofia natürlich verschwieg, begann eine Affäre ausgerechnet mit der ehemaligen begeisterten Nationalsozialistin, die sich inzwischen allerdings zur Regimegegnerin gewandelt hatte und von ihrem Ehemann, einem SS-Mitarbeiter, getrennt lebte. Rot hielt sich nun überwiegend in Grete Dostals Wohnung auf und wurde von ihr sogar zur Übersetzung dienstlicher Unterlagen herangezogen. So erfuhr er viel über Personal und Arbeitsweise des Luftmeldekopfes Südost, obwohl er dessen Diensträume nicht betreten durfte und dessen Leiter, den geheimnisvollen Herrn Klatt, nur einmal kurz zu Gesicht bekam.

Die Ausreise der Familie Rot verzögert sich zunächst

Nachdem Ende November ein portugiesisches Einreisevisum in seinen Pass gestempelt und eine Schiffspassage von Lissabon nach Bolivien gebucht worden war, wurde Rot Anfang Dezember 1942 von Sofia nach Budapest zurückgebracht. Die Ausreise der Familie Rot verzögerte sich aber, weil inzwischen Gustav Boecker von der Abwehrstelle Stuttgart wegen Korruption entlassen und zur kämpfenden Truppe versetzt worden war. Mirko Rot wurde nun in Budapest in der Wohnung von Josef Baumrucks Verlobter versteckt. Dort konnte Rot ein Telefonat einer ebenfalls in der Wohnung lebenden älteren Dame mithören und feststellen, dass es sich um eine Frau Kauder und die Mutter des geheimnisvollen Herrn Klatt handelte. Bei einer heimlichen Durchsuchung des Zimmers von Laura Kauder fand er ein mit „Richard“ beschriftetes Kinderbild und konnte sich nun zusammenreimen, dass Klatts bürgerlicher Name Richard Kauder war.

Am 16. Januar 1943 schließlich konnten Rot und seine Familie in Begleitung Franz Kleers und mit deutschen Pässen auf die Namen Michael, Susanne und Georg Rath die ungarische Hauptstadt in Richtung Stuttgart verlassen, wo sie Gustav Boeckers Nachfolger treffen sollten, der ihnen als Fritz Schmidt vorgestellt wurde. Die Decknamen Fritz Schmidt und Fritz Straub nutzte der aus Leonberg stammende 32-jährige Textilkaufmann Fritz Strenkert, der im März 1941 von einer Feldgendarmerie-Abteilung zu der Abwehrstelle Stuttgart versetzt worden war.

Strenkert hatte schon die Pässe für die Familie Rath besorgt, indem er die Anträge seinem überarbeiteten Vorgesetzten Oberstleutnant Julius Schmidt, dem Leiter der Stuttgarter Abwehr-Abteilung I, in einem ganzen Schwung unwichtiger Dokumente zur Unterschrift vorgelegt hatte. Ende 1942 hatte er die Nachfolge Boeckers als Kurier zwischen Stuttgart und Budapest übernommen. Um die Fiktion eines Agenteneinsatzes Rots zu untermauern, instruierte Strenkert ihn, mit „Miki“ zu unterzeichnende Berichte an eine Deckadresse in Lausanne zu schicken, und unterrichtete ihn in der Herstellung und dem Gebrauch von Geheimtinte aus Zitronensaft.

Am 15. Januar 1943 schließlich konnten Mirko, Zuzana und George Rot in Stuttgart eine Lufthansa-Maschine besteigen, mit der sie nach einem Zwischenaufenthalt in Lyon einen Tag später in Lissabon eintrafen. Dort meldete sich Rot sofort bei der Vertretung der jugoslawischen Exilregierung, welche ihn an die britische Botschaft weiterleitete. Sein Bericht über die abenteuerliche Geschichte seiner Flucht wurde an die Londoner Zentrale des MI5, des britischen Spionageabwehrdienstes, geschickt. Dort reagierte man wie elektrisiert auf den Bericht und ordnete die sofortige Überstellung der Familie Rot nach London an.

Die Identität des Agenten wird nicht enthüllt

Der britische Funkentschlüsselungsdienst in Bletchley Park hatte seit dem Herbst 1941 Tausende von Funksprüchen Klatts aus Sofia nach Wien entschlüsseln können, mit denen „Max-Meldungen“ über die Lage und Belegung sowjetischer Flugplätze und Bewegungen sowjetischer Truppen sowie „Moritz-Meldungen“ aus dem britischen Einflussgebiet im Nahen Osten übermittelt worden waren. Trotz sorgfältigster Analyse der Funksprüche hatten aber die Analytiker des britischen Funkabwehrdienstes weder die Quellen dieser Meldungen noch die wahre Identität des Lieferanten der Meldungen, des geheimnisvollen deutschen Agenten Klatt, feststellen können.

Während wegen der „Moritz-Meldungen“ fieberhaft nach einem Informationsleck bei den britischen Stellen in Nordafrika und im Nahen Osten gefahndet wurde, fühlten sich die Briten wegen der „Max-Meldungen“ eigentlich verpflichtet, den sowjetischen Bündnispartner auf die vermeintliche Lücke in dessen Sicherheitssystem hinzuweisen. Eine solche Warnung kam aber nicht in Frage, weil dem problematischen Alliierten Stalin verborgen bleiben sollte, dass die Briten inzwischen den deutschen Funkverkehr einschließlich der Funkverbindungen des Nachrichtendienstes der Wehrmacht mitlesen konnten.

Nachdem die sowjetischen Stellen auf sehr dezente Hinweise auf in der Sowjetunion aktive deutsche Agenten nicht reagiert hatten, gingen die Briten deswegen davon aus, dass es sich bei den „Max-“ und möglicherweise auch bei den „Moritz-Meldungen“ um den Deutschen vom sowjetischen Geheimdienst untergeschobenes Desinformationsmaterial handelte. Aber auch für diese These gab es keine Beweise.

Der unverhofft aufgetauchte Flüchtling Mirko Rot offerierte dem britischen Geheimdienst nun nicht nur Informationen aus erster Hand über den Luftmeldekopf Südost in Sofia, dessen Arbeitsweise und dessen Leiter Klatt, sondern auch eine Möglichkeit, den Verpflichtungen gegenüber dem sowjetischen Alliierten gerecht zu werden, ohne allzu viel Wissen über die eigenen Möglichkeiten preiszugeben.

Dreizehn lange Verhöre durch den Security Service

Die Rots waren am 22. Februar 1943 in London eingetroffen, in einem noblen Hotel untergebracht und dort von Beamten des britischen Security Service vernommen worden. Da diese aber Mirko Rots Darstellung, lediglich auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit in Kontakt zum deutschen Geheimdienst geraten zu sein, für unglaubwürdig hielten, wurde Rot Ende Februar 1943 ins „Camp 020“, das geheime Vernehmungszentrum des Security Service im Latchmere House südwestlich von London, gebracht. Erst nachdem er dort zwischen dem 6. März und 10. April dreizehn vielstündigen Verhören unterzogen worden war, war der Security Service von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt.

Rot hatte ausführlich seine Beobachtungen in Klatts Sofioter Dienststelle geschildert und viele Details wie die Telefonnummern der Dienststelle und die Kennzeichen ihrer Dienstwagen geliefert. Über Klatt selbst wusste er zu berichten, dass dieser mit „Ibi“, der ungarischen Tänzerin Ibolya Kálmán, liiert sei, die er in der Riunione-Bar in Sofia kennengelernt hatte. Klatt sei ein Genie, der die höchste Wertschätzung der Abwehrstelle Wien ebenso genieße wie den freundschaftlichen Respekt seiner Mitarbeiter. Zusammenfassend gab Rot schließlich seiner Überzeugung Ausdruck, dass „die Eliminierung Klatts und damit der Aktivitäten in Sofia“ eine absolute Notwendigkeit für die Alliierten sei.

Nach Abschluss der Vernehmungen Rots konnten die Briten den Sowjets genauere Informationen über Klatts Meldungen zuspielen, da als deren Quelle nun statt der dechiffrierten Funksprüche Rot angegeben werden konnte. Der Plan, Rot als Doppelagenten nach Sofia zurückzuschicken, war schnell fallengelassen worden. Nach längeren internen Diskussionen signalisierte man aber genau diese Absicht den Sowjets, um sie zu einer Mitteilung zu veranlassen, ob der sowjetische Geheimdienst Klatts Dienststelle infiltriert hatte, da die Einschleusung eines britischen Doppelagenten das sowjetische Gegenspiel hätte stören müssen.

Einen mit allen zuständigen Stellen abgestimmten Bericht übergab im Juli 1943 der britische Marineoffizier Cecil Barclay in Moskau seinem Ansprechpartner vom sowjetischen Armeegeheimdienst. Statt der erhofften kooperativen Reaktion beklagten die Sowjets zur Verwunderung der Briten aber lediglich die Unvollständigkeit des ihnen übergebenen Materials. Das war kein Wunder, denn der sowjetische Geheimdienst war über „Maulwürfe“ in den britischen Geheimdiensten seit Langem über die britischen Dechiffrierungserfolge und über die Erkenntnisse der britischen Dienste zu Klatt und seinen Meldungen vollständig im Bilde.

Rot geht mit seiner Familie nach Kalifornien

Für alle alliierten Geheimdienste aber blieb die Herkunft der von Klatt nach Wien gefunkten Informationen bis weit in die Nachkriegszeit ein großes Rätsel. Nie fanden sie heraus, dass die „Max“- und „Moritz“-Meldungen lediglich geschickt zusammengestellte und mit allgemein zugänglichem Wissen angereicherte Erfindungen von Klatts exilrussischem Hauptinformanten gewesen waren, und der Exilrusse und der jüdische Immobilienmakler die deutschen Generalstäbe jahrelang an der Nase herumgeführt hatten.

Mirko Rot ging mit seiner Familie nach Kalifornien. Dort verliert sich seine Spur – möglicherweise, weil Rot seinen Familiennamen amerikanisiert hat, so wie er schon bei der Gründung Jugoslawiens seinen Geburtsnamen Imre in den serbischen Vornamen Mirko umgewandelt hatte.

Autor: Winfried Meyer ist Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und Autor der Biografie: Klatt. Hitlers jüdischer Meisteragent gegen Stalin. Überlebenskunst in Holocaust und Geheimdienstkrieg, Metropol-Verlag Berlin, 1287 Seiten, 49,90 Euro.