Seit zwanzig Jahren präsentiert das „Literaturblatt“ das Leseland Baden-Württemberg. Während andere Magazine ums Überleben kämpfen, hält die Zeitschrift wacker Kurs.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - In der Welt der Bücher und der Literatur herrscht gerne einmal Endzeitstimmung: Irgendetwas geht immer unter. Umso erfreulicher, wenn eine gewagte Unternehmung, anstatt zu verkümmern, einfach zu blühen beginnt. Und nun blüht sie schon im zwanzigsten Jahr. Die Zeitschrift „Literaturblatt“ ist so ein Fall. Das Blühen bezieht sich keineswegs nur auf die bunten Farben, in die sich das Blatt seit einigen Jahren hüllt. Es ist das Ergebnis der unermüdlichen Kultivierungsarbeit, mit der die Gründerin und Herausgeberin Irene Ferchl die Literaturlandschaft des Landes beackert, um dem hier Gedeihenden die fällige Aufmerksamkeit zu sichern.

 

„In Stuttgart seien Leselust und Bücherliebhaberei längst nicht so groß wie in anderen Städten, behauptete ein Zugereister zu Beginn des 19. Jahrhunderts.“ Mit diesen Worten eröffnet die Publizistin im Editorial die allererste Ausgabe des „Literaturblatts“. Was kommt, hat keinen anderen Zweck, als dieses sich hartnäckig haltende Vorurteil zu widerlegen. Denn das Herz eines jeden der im Zweimonatstakt erscheinenden Hefte ist über die Jahre hinweg der Terminkalender geblieben, der minutiös auflistet, in welchem überbordenden Maße hier Leselust und Bücherliebhaberei regieren. Und das, obwohl man sich auch vor zwanzig Jahren schon, wie Ferchl schreibt, im „Krisengerede über den Untergang des Buches“ erging – lange bevor Amazon und E-Books als dessen Vollstrecker in Sicht gerieten.

Krisengerede musste auch Ferchl erdulden, wenn sie anfangs ihr Vorhaben vorstellte: „Tolle Idee, aber das wird nichts.“ Offenbar scheint man im Land auch nach zwanzig Jahren noch vorsichtig abwarten zu wollen: So etabliert das „Literaturblatt“ inzwischen ist – von einem kurzen Zeitraum abgesehen muss es ohne öffentliche Förderung auskommen. Wie geht das?

Blick über den Tellerrand

Ferchl positionierte ihr Magazin genau in jener Lücke, die sich zwischen der Tageszeitung und anderen Spezialgazetten öffnet: „Ich wollte Inhalte bieten, die es sonst nicht gibt, ausführliche Feuilletons, Porträts, literarische Spaziergänge, aber zum Beispiel keine Originaltexte von Autoren.“ Dazu gehört auch der Blick über den baden-württembergischen Tellerrand hinaus – in der Jubiläumsausgabe etwa der nach London, wie es sich aus der Perspektive aktueller Neuerscheinungen zeigt. Wer durch die Jahrgänge blättert, findet als Verbindendes neben der gediegenen, liebevollen Aufmachung eine fein abgewogene Mischung aus Anschaulichkeit und Anspruch – gewissermaßen die Chronik der laufenden literarischen Ereignisse.

Zu dem Konzept kommt ein stabiles Vertriebsmodell. Das in einer Auflage von fünftausend Exemplaren erscheinende „Literaturblatt“ liegt nicht an Kiosken aus, sondern an Verteilstellen wie Bibliotheken oder Buchhandlungen. Diese kaufen jeweils eine bestimmte Zahl an Exemplaren und geben sie in der Regel umsonst an ihre Kunden weiter. Doch was wären Konzept und Vertrieb, wenn es der umtriebigen Literaturvernetzerin nicht immer wieder gelungen wäre, die Leidenschaft mutiger Verleger zu entflammen. Der Tübinger Verlag Klöpfer und Meyer machte den Anfang, seit 2006 gewährt der Stuttgarter Hirzel Verlag Obdach.

„Eine Literaturzeitschrift ist nichts, mit dem man Geld verdienen kann“, sagt Ferchl. Die erste Ausgabe stemmte sie aus eigener Tasche. Heute wird das „Literaturblatt“ über andere Projekte gegenfinanziert. Jedes Heft ist ein Abenteuer. Die Probleme ändern sich, die Sorge bleibt: „Früher hatte ich immer Angst, das Blatt nicht vollzukriegen, jetzt muss ich fürchten, nicht alles unterzubringen.“ Über die Jahre ist ihr Mitarbeiterstamm in etwa mit der literarischen Intelligenz des Landes identisch geworden. So trotzt Irene Ferchl den wechselnden Untergangskonjunkturen. Während eine Publikation wie „Literaturen“, einmal als Flaggschiff geplant, mittlerweile in den Tiefen des Monatsmagazins „Cicero“ versunken ist, hält das „Literaturblatt“ wacker Kurs.

Lieblingsautor: Bulgakow

Zu den Konstanten gehört auch der Prominentenfragebogen. Den allerersten hat der damalige Stuttgarter Schauspielintendant Friedhelm Schirmer beantwortet. In der jüngsten Ausgabe tut er es wieder. Unter Schirmers Lieblingsautoren ist noch immer Michail Bulgakow, Salman Rushdies „Satanische Verse“ locken nach wie vor zur erneuten Lektüre – nur die Erinnerung an das erste Leseerlebnis hat sich geändert: Aus „Jochen, Lutz und Wollbäckchen“ ist „Gespenster essen kein Sauerkraut“ geworden. Ein Fall produktiver Erinnerung.

Vielleicht lässt sich als produktive Erinnerung auch fassen, was das „Literaturblatt“ leistet: uns mit immer neuen Lesererlebnissen zu konfrontieren, die mit der Zeit so zum Teil des eigenen Lebens werden, dass man einmal schwören würde, es seien die intensivsten gewesen.