Jeder geht anders mit ihr um. Der eine misst, der andere vermisst sie. Dieser Essay ist der Auftakt einer Serie über das, was man Zeit nennt.

Stuttgart - Neulich hat mir jemand gesagt, dass ich früher volleres Haar hatte. Es ist mir nicht entgangen. Auch ich schaue manchmal in den Spiegel und wähne mich neu modelliert. Schwund oben, Zuwachs unten. Den gab es auch früher. Die Wampe kam und ging. Irgendwann ist sie gekommen, aber nicht mehr gegangen.

 

Man verdrängt gerne, was die Zeit mit sich bringt, verbannt die Waage aus dem Bad und kauft Kleider, die schlanker machen. Jeder betrügt sich, so gut er kann. Ich habe einen behinderten Freund, der oft deftig speist und deshalb alle drei Monate zur ärztlichen Gewichtskontrolle muss. Einmal hat er dabei den Bauch eingezogen und danach voller Freude erzählt: "Den hab ich ausgetrickst!" Ich trickse mit dunklen Hosen und längs gestreiften Hemden.

Das ständige Werden und Vergehen der Dinge hat mich früher nicht groß interessiert. Wer beschäftigt sich schon gerne vor der Zeit mit der Endlichkeit derselben? Ich bin erst Mitte vierzig. Da hat man noch Zeitgefühle wie im Frühling. Realistisch betrachtet geht es allerdings Richtung Spätsommer. Das wird mir morgens beim Frühstück bewusst, wenn wie selbstverständlich kleine Pillen gegen Bluthochdruck neben meiner Zeitung liegen, in der ich mit 20 allenfalls die Namen in den Todesanzeigen überflog. Heute lese ich zuerst die Geburtsdaten der Verstorbenen und danach die Namen.

Der Deutsche schläft durchschnittlich 25 Jahre

Wenn man älter wird, scheint die Zeit schneller zu vergehen. Man hat das Gefühl, dass sie knapp werden könnte. Vielleicht versuche ich deshalb, besonders viel in meinen Tag zu packen. Effizienz ist das Gebot der Stunde. Dabei hilft mir ein Computer, der eine zeitsparende Erfindung ist. Jedenfalls sagt das die Werbung. In Wirklichkeit sitze ich immer länger vor ihm, stets bemüht, keine Zeit zu vertrödeln. Es ist ein Aberwitz. Man versucht, die Zeit zu töten, um ein bisschen mehr von ihr zu haben, und am Ende ist sie es, die ihre Mörder vernichtet.

Psychologen raten uns Heutigen, dem eigenen, inneren Metronom zu folgen. Das ist nett gemeint. Mein Metronom kommt mir manchmal relativ langsam und manchmal relativ schnell vor. Albert Einstein ging das wohl ähnlich. "Wenn man mit einem netten Mädchen zwei Stunden zusammen ist", schrieb er, "hat man das Gefühl, es seien zwei Minuten. Wenn man zwei Minuten auf einem heißen Ofen sitzt, hat man das Gefühl, es seien zwei Stunden. Das ist Relativität." Bleibt die Frage, wie lange wir, bezogen auf ein ganzes Leben, mit einem netten Mädchen verbringen und wie lange wir auf dem Ofen sitzen?

Immerhin haben wir meistens einen warmen Hintern. Statistiker sind zur Erkenntnis gelangt, dass der Durchschnittsdeutsche 25 Jahre schlafend verbringt. Die übrige Zeit sitzt er vor dem Fernseher, jedenfalls zu einem beachtlichen Teil von acht Jahren. Fünf Jahre wendet er für Essen und Trinken auf, und in der Folge davon verrichtet er sechs Monate seine Notdurft. Für Hausputz sind 16 Wochen reserviert. Drei Monate der Lebenszeit verbringt der Deutsche beim Arzt, doppelt so lange im Verkehrsstau. Dem Vorspiel in der Zweisamkeit schenkt er sechs Wochen, in der Folge summiert sich der sexuelle Höhepunkt auf insgesamt 16 Stunden.

Burn-out: Herausforderung des 21. Jahrhunderts

Dieser Teil des Lebens wird nach statistischen Gesichtspunkten ausdrücklich der Freizeit zugerechnet. Der Erwerbsarbeit widmen wir uns netto 7,5 Jahre. Tendenz steigend. Für drei Viertel der Arbeitnehmer gibt es heute keinen klassischen Feierabend mehr. Sie sind rund um die Uhr einsatzbereit und folglich immer auf dem Sprung. Viele Beschäftigte haben damit ihre Not. Sie leiden unter einem beschleunigten Lebenstempo, unter dem gesellschaftlichen Wandel und unter der scheinbaren Notwendigkeit, ständig Dinge gleichzeitig zu tun.

Gesund ist das nicht. Der volkswirtschaftliche Schaden durch arbeitsbedingte psychische Belastungen beläuft sich laut Schätzungen in der Bundesrepublik auf jährlich 6,3 Milliarden Euro. Immer mehr Menschen gehen in der permanenten Einsatzbereitschaft kaputt. Nicht von ungefähr gilt Burn-out jetzt als größte gesundheitspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts.

Die einen werden verheizt, die anderen verheizen sich und andere selbst. Eine Jugendpsychiaterin hat mir neulich erzählt, dass manchmal Eltern zu ihr in die Praxis kämen, die schon bei der Zeugung ihrer Kinder den möglichen Einschulungstermin im Kalkül haben und ihren Nachwuchs wie ein Projekt planen, an dessen Ende die Promotion mit 25 steht. Erwachsene sind auch nur Menschen.

Wir ertrinken in der Nachrichtenflut

Wenn sie ihre innere Ruhe verloren haben, sich überfordert fühlen, gehetzt sind und voll gesogen mit allgegenwärtigen Katastrophenmeldungen, kann es passieren, dass sie ihre Kinder zu eigenen Projektionen machen, sie nicht mehr intuitiv erziehen, sondern drillen, auf dass ihre Zöglinge im globalen Wettbewerb bestehen und besser sind als ihre Eltern und die anderen sowieso. Dergleichen kann gewaltig schiefgehen. In den Zeitungen steht manchmal, wie es endet.

Zeitungen spiegeln wider. Sie werden auch als Journale bezeichnet. Journal kommt von Jour, also Tag. Früher bestand die Kunst für Journalisten darin, die Nachrichten des Tages zu finden. Heute drohen die Kollegen in den Newsrooms unter der Nachrichtenflut zu ersaufen. Immer wilder wird der Strom, der ins Journal drängt.

Immer weniger Zeit bleibt fürs Nachdenken. Manchen Blättern sieht man das an. Honoré Daumier hat das einmal hübsch in einer Karikatur zum Ausdruck gebracht, in der eine Zeitungshändlerin eine druckfrische Ausgabe anbietet. Ein Mann beschwert sich mit den Worten: "Madame, ich habe ihr Journal gekauft, und ich finde nicht die neuesten Nachrichten von heute!" Daraufhin erwidert die Zeitungsverkäuferin: "Mein Herr, die Nachrichten von heute, die waren schon im Journal von gestern."

Das Smartphone - Helfer in rasanten Zeiten

Wer in dieser rasenden Gegenwart mitmischen will, sollte mindestens ein Smartphone besitzen. Jedenfalls sagen das meine Freunde. Nun habe ich auch eines und kann meine elektronischen Briefe lesen, während ich beim Bäcker anstehe. Neulich habe ich auf dem Campingplatz ein bisschen angegeben mit dem Ding. Ich wollte den Wohnwagen geradestellen und habe die App mit der Wasserwaage angeklickt. Mein Nachbar, ein betagter Herr, war nicht beeindruckt. Er hatte längst die neuere Version des elektronischen Helfers.

Es ist nicht nur so, dass ich etwas mit dem Smartphone mache. Es macht auch etwas mit mir. Ständig lockt es mit dem Duftstoff der vermeintlichen Neuigkeit. Sieben Tage die Woche, 52 Wochen im Jahr. Man kann souverän mit solchen Geräten umgehen oder sich zu ihrer Geisel machen. Ich bin schwach. Es ist nicht, dass ich stets erreichbar sein müsste. Mich treibt diese seltsame Angst, etwas zu verpassen und damit womöglich aus der Zeit zu fallen. Und also bin ich medienkonvergent und pseudomodern.

Wenn man so tickt, spricht sich das herum. Freunde und Kollegen rufen dann auch noch spätnachts an. "Du bist doch sicher auch noch online?" Mein Kumpel Reiner schaltet sein Smartphone auf lautlos. Er schaut nur auf den Bildschirm, wenn er Lust dazu hat. Reiner ist selbstständig. Er verdient trotzdem ganz gut.

Handys halten von der Arbeit ab

Erwin Teufel, der frühere Ministerpräsident, hat mir kürzlich erzählt, dass Handys die Menschen nach seiner Beobachtung ständig bei ihrer Arbeit unterbrechen. Er will nicht telefonieren und gleichzeitig an einer Rede schreiben. Deshalb lebt er ohne Handy besser. "Ich bin schier unbegrenzt belastbar", sagte er, "wenn ich eins nach dem anderen mache."

Vielleicht sollte ich einmal nach Papua fliegen. Dort leben die Kapauku. Sie sind davon überzeugt, dass es nicht gut ist, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu arbeiten. Die Dobe-Frauen in Australien sehen es ähnlich. Sie sammeln an einem Tag die Nahrung, die sie brauchen, um ihre Familien drei Tage zu versorgen. Der Rest der Zeit gehört ihnen, um Besuche zu machen oder einfach nichts zu tun.

Der Zeit-Forscher Robert Levine hat die Kapauku besucht und noch viele andere. In Nepal und Indien hat der Psychologieprofessor aus Brooklyn beobachtet, "wie Freunde einander besuchten, um nur dazusitzen und zu schweigen. Manchmal dehnte sich das Schweigen über Stunden aus, bis sich plötzlich wie durch eine Verpuffung, eine oft sehr lebhafte und lustige Unterhaltung entlud. Dann folgte wieder Stille. Diese Menschen reagierten irritiert, als ich sie fragte, ob sie sich beim gemeinschaftlichen Nichtstun unwohlfühlten. Einfach nur das Dasitzen, so erklärten sie mir, sei doch schon eine Tätigkeit."

Man kann sich auch anders mit Zeit befassen

Beim Schweigen spürt man die Zeit. Nur mit dem Unterschied, dass man in unserem Kulturkreis solche Pausen relativ schwer aushält. Wir reden lieber wortreich gegen die Pausen an. Manchmal hilft das nicht. Vor einigen Jahren ist mein bester Freund weit vor der Zeit gestorben. Er tauschte die Räume, und ich blieb zurück. Neben seinem Bett lag ein Buch über Schiffe. Er wollte einen eigenen Kahn, irgendwann später. Ich habe mir nach seiner Beerdigung ein kleines Boot gekauft und eine To-do-Liste gemacht. Ich will nicht, dass am Ende neben meinem Bett ein Buch über unerfüllte Träume liegt.

Seit damals fühlt sich die Zeit anders an. Ich will mehr über sie wissen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Man kann den Kopf in ein volles Waschbecken tauchen und so lange die Luft anhalten, bis das Zwerchfell rebelliert. Die Apnoetaucher tun das oft mehr als fünf Minuten und beschreiben diese Tortur als großartig, weil sie den Takt des Lebens weckt.

Man kann sich auch anders mit Zeit befassen. Zum Beispiel mit einer Serie in der Zeitung, in der jede Woche Menschen über ihr Zeitgefühl schreiben. Eine Frau, die an Krebs leidet; ein Sportler, der laufend gegen die Zeit anrennt; eine Schülerin, die auf eine Zukunft hofft; ein Forscher, der sich mit dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart befasst.

Ach herrje! Meine Uhr verrät, dass wir lange geplaudert haben. Sieben Minuten und 30 Sekunden sind fürs Lesen dahingegangen.