Karlheinz Geißler ist Wirtschaftspädagoge und Deutschlands bekanntester Zeitforscher. Der Professor lebt seit 25 Jahren ohne Uhr.

Stuttgart - Ach ja, mit der nicht immer lieben Zeit haben wir so unsere Not. Nie haben wir genug davon und niemals sind wir auf der Höhe des Zeitgeschehens. Wir laufen zwar immer schneller, doch das führt nur dazu, dass wir immer seltener auf dem Laufenden sind. Ich gestehe es ein: so geht's auch mir, der ich nicht ganz up to date bin. Das sieht man an meinem Handy. Es kann keine Fotos schießen, keine Mails versenden und hat leider auch keine eingebaute Wasserwaage.

 

Ich bin 66 Jahre alt und emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Seit vielen Jahren befasse ich mich nebenbei mit dem Tempo dieser Welt. Eigentlich sollte ich dafür erreichbar sein, möglichst an jedem Ort und rund um die Uhr. Bin ich aber nicht! Ich gestehe es ungern ein, aber meine Fahrlässigkeit geht so weit, dass ich meine Wohnung immer noch ohne Rufumleitung vom Festnetz aufs Mobiltelefon verlasse; und meine Nachbarn finde ich immer noch ohne Frau "Navis" richtungsweisende Einflüsterungen. Bisher hat mich die Werbung auch nicht davon überzeugen können, mir eine jener Quick-and-easy- Haarkuren zuzulegen, die mir den Zeitaufwand für die Spülung nach dem Waschen erspart. Was mach ich nur falsch?

Kein Wunder, dass mich in immer kürzeren Abständen das Gefühl beschleicht, in meinem Leben irgendwann vom Zeitgeist links liegen gelassen worden zu sein. Ja, ich sag es offen, ich schäme mich, so wie letztmalig in der Schule, als ich in Mathe nicht mitgekommen bin. Doch zum Glück weiß ich wenigstens aus dieser Zeit noch, wie man sich schämt und muss das Wort nicht erst im Internet googeln.

Kind der Generation Festnetz

Ich hab den Zug der Zeit verpasst. Ich stehe auf dem Abstellgleis und fürchte, es wird noch viel, viel schlimmer werden, wenn erst die nächste Technologiewelle in meinen Alltag schwappt. Wie nur konnte mir das passieren?

Allmählich dämmert's mir. Ich hab das Verkehrte gelernt! Meine Eltern, meine Lehrer, alle haben sie mir offenbar nicht das beigebracht, was das Leben von mir verlangt. Ich bin ein alt gewordenes Kind der Generation Festnetz. Für die Schule, nicht für das Leben habe ich gelernt. Ich habe Bücher gelesen, und war ich bei der Rechtschreibung mal unsicher, dann hab ich in den Duden geschaut. Niemand hat mir in meiner Jugend gesagt, dass man Bücher nicht liest, sondern hört, um nebenher gleichzeitig noch etwas anderes tun zu können. Keiner hat mich darauf hingewiesen, dass man bei Wikipedia sehr viel schneller an Informationen kommt als durchs Blättern in kiloschweren Lexika. Ach, man hat mir so vieles verschwiegen!

Warum nur? Wollten sie nicht alle - Eltern wie Lehrer - immer "nur das Beste" für mich? Und das Beste hieß dann: "Stell gefälligst die Musik aus, wenn du deine Hausaufgaben machst!", "Lies die angefangene Geschichte erst zu Ende, bevor du eine neue beginnst!" Immer sollte ich eins nach dem anderen machen. Das wurde mir eingebläut. Und versprochen, dass mir, wenn ich mich nur daran halten würde, im späteren Leben Lohn und reichlich Anerkennung winken. Heute weiß ich: Das stimmt nicht! So funktionieren die Welt, das Leben und die Zeitverläufe nicht! Man hat mich auf ein falsches Dasein vorbereitet! Und so komme ich mir vor wie eine Dampflokomotive, der man auf dem Weg ins Technikmuseum ein lorbeergeschmücktes Schild mit dem Spruch "Ich bin nun alt und bin bereit, zu weichen der modernen Zeit!" umgehängt hat.


Man soll eins nach dem anderen machen? Wirklich? Für was und wen soll das heute gut sein? Meinen Kindern - beide vom Stamme der "Digital Natives" - kann ich mit der "Moral", immerzu eins nach dem anderen zu tun, nicht mehr kommen. Sie hören allein deshalb schon nicht auf mich und noch weniger auf meine Ratschläge, weil sie entweder gerade telefonieren oder sich durch einen Knopf im Ohr mit Musik beschallen lassen.

Vergeblich bestehe ich darauf, dass wir Terminabsprachen treffen und sie auch einhalten: "Um vier Uhr habe ich Zeit, dann können wir das ja mal durchsprechen", so mein freundliches Angebot. Was aber geschieht: Leo ruft gegen zehn vor vier an und sagt, ihm sei etwas Wichtiges "dazwischengekommen", so dass unser vereinbartes Treffen um eine halbe Stunde verschoben werden müsse. Beim nächsten Mal kommt er gleich eine halbe Stunde zu spät zum vereinbarten Treffen und konfrontiert meinen Vorwurf, er sei unpünktlich und das gehöre sich nicht, mit dem nur schwer zu widerlegenden Argument, ich hätte doch genug zu tun, um die Zeit mit etwas anderem als mit Warten auf ihn zu verbringen. Meinen Söhnen ist nun mal anderes wichtiger als mir - und sie sind trotzdem erfolgreich im Leben. Sie machen nicht eins nach dem anderen, sie machen vieles gleichzeitig. Und bei dem, was sie gleichzeitig tun, kommt ihnen ganz viel Wichtiges dazwischen. Und so ist es auch nur konsequent, dass sie bei ihren Verabredungen nur mehr vage Zusagen machen und häufig umdisponieren. "Ich melde mich wieder, ich ruf an" - das höre ich oft.

Seit meiner Schulzeit muss sich allerhand verändert haben, und das, was anders geworden ist, muss mehr sein als nur das Zeitverhalten junger Menschen. Es muss gute Gründe für diese Veränderungen geben, sonst würde die junge Generation mit der Zeit nicht in der Art und Weise umgehen, wie sie das tut. Die Gründe, Anlässe und Ursachen müssen etwas mit den Umbrüchen, dem Wandel und den Entwicklungen der Arbeits- und Lebensbedingungen in den letzten Jahrzehnten zu tun haben. Die nämlich sind es, die dafür verantwortlich zu machen sind, dass manch ein Erwachsener heute älter aussieht, als er wirklich ist und von der Frage umgetrieben wird, ob die Zeiten schlechter geworden sind - oder man selbst nur älter. Um darauf eine Antwort zu finden, braucht es zum einen eine Vorstellung von Zeit, zum anderen von der Geschichte der Veränderungen unseres Umgangs mit Zeit. Es ist die Suche nach einer überzeugenden Antwort auf diese Fragestellungen, die mich umtreibt. Sie motiviert mich zu meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen Zeit. Sie macht mich im Jargon der Medien zu einem "Zeitforscher".

Die Zeit lässt sich nicht am Schwanze packen

Nun gut, dass sich die Zeiten ändern, wissen wir, das ist trivial. Wie sie sich ändern, vor allem aber, wie sie sich geändert haben, das hingegen ist keine Trivialität. Noch weniger verbreitet ist die Erkenntnis, dass diejenigen Zeiten, die wir für vergangen halten, in mancherlei Hinsicht gar nicht vergangen sind, sondern den Sockel unseres heutigen Zeitlebens bilden.

Das Werden und Vergehen, das wir Zeit nennen, ist so vielfältig und facettenreich, dass die Menschen sich überfordern würden, wenn sie die Botschaften, die der Lauf der Zeit aussendet und die ihn markieren, allesamt wahrnehmen würden und zu verarbeiten versuchten. Der Mensch nimmt bekanntlich selektiv wahr und selektiert das Wahrgenommene beim Denken darüber noch einen Schritt weiter. Kompliziert wird's dann dadurch, dass das, was Menschen wahrnehmen und verarbeiten, selbst wieder zeitlich ist. Blickten unsere Vorvorfahren zum Himmel, um den Gang der Zeiten wahrzunehmen, so schauten unsere Vorfahren auf die Zeigerverläufe der Uhr, zuerst auf die Uhren am Kirchturm und später dann auf die, die sie am Unterarm trugen. Heutzutage lenkt man den Blick auf nackte Zahlen, die in der Ecke irgendeines Displays ihr Wesen und manchmal auch ihr Unwesen treiben. Sozialwissenschaftler - und ich rechne mich dazu - die sich mit Zeit beschäftigen, schauen in erster Linie auf die Menschen, um sie zu beobachten, wie sie auf die Zeit blicken, und was sie sich einfallen lassen, um mit ihrer eigenen Zeitlichkeit und derjenigen der Welt umzugehen.

Ganz gleich, welches Netz der Ordnung man auch immer auswirft, die Zeit einzufangen, sie lässt sich nicht - so Hans Castorp in Thomas Manns Zauberberg - "am Schwanze" packen. Weil das unverrückbar so ist und die Menschen nicht bewusst- und orientierungslos im undurchschaubaren Werden und Vergehen umhertaumeln wollen, haben sie sich zu allen Zeiten bemüht, richtungsweisende und stabilisierende Wegmarken zu setzen.

Wissenschaftliche Neugier

Wie sie das gemacht haben, und wo sie diese Wegmarken dann schließlich hingeführt haben, dem gilt meine wissenschaftliche Neugier. Dem bin ich daher in mehreren Büchern nachgegangen. Was ich schreibe, verstehe ich als Angebote an Leser. Es geht darum, all das, was die Zeit mit den Menschen macht und was die Menschen mit dem, was sie Zeit nennen, machen, heller und deutlicher zu sehen - es muss sich dabei ja nicht gleich um eine Erleuchtung handeln.

Zufrieden wäre ich bereits, wenn dem einen oder der anderen im Laufe der Lektüre am Altar der Gewissheit einige Lichter aufgingen und andere ausgeblasen würden. Enttäuscht von meinen Zeitbüchern aber werden all jene, die sich darin irgendwelche Rezepte und Tipps für ihr alltägliches Zeitmanagement erwarten. Diese kann und will ich nicht liefern. Ich bin mir nämlich ganz sicher, dass diese mehr Zeitprobleme verursachen als lösen. Aus einem naheliegenden Grund: Der Mensch hat die Zeit nicht, er ist sie.