Irja Kass hat Krebs im Endstadium. Sie müsste längst tot sein, doch sie hält mit eisernem Willen dagegen – und übertrifft alle Erwartungen.  

Stuttgart - Wenn es nach dem ärztlichen Befund ginge, müsste Irja Kass längst tot sein. Sie hat Krebs im Endstadium. Mit hochdosierter Chemie und eisernem Willen hält sie dagegen – und übertrifft alle Erwartungen.

 

Mit der Zeit habe ich mich eigentlich schon immer befasst - so sehr, dass ich sogar meine Magisterarbeit darüber schrieb. Früher war sie für mich allerdings nur ein interessanter Nebenaspekt des Lebens. Heute bedeutet sie mir einfach alles.

Diese neue Bedeutung hat sie in dem Moment erlangt, als ich meine Todesdiagnose erhielt: Krebs. Es hieß, dass mir keine Jahre, sondern nur noch Monate bevorstehen würden. Als ich meinen Arzt fragte, ob ich zum Abzählen dieser Monate eine oder beide Hände bräuchte, antwortete er: "Eine Hand dürfte reichen." Das war eine Woche vor meinem 37. Geburtstag.

"Damals erschien es utopisch, mein 38. Lebensjahr zu erreichen"

Früher habe ich viel Zeit mit Pläneschmieden vergeudet, immer wartete ich auf den richtigen Zeitpunkt, auf "bessere Zeiten", um dieses oder jenes anzugehen. Im Augenblick der ärztlichen Diagnose wurde all das völlig nebensächlich. Die Theorie war vorbei, es ging ums Ganze, um das ganze Leben, um den ganzen Tod.

Mehrere Tage lebte ich wie im Nebel und sah ein paar grauenvollen Monaten entgegen, die mir genauso große Angst machten wie deren Ende. Dass noch so viele gute Zeiten auf mich zukommen sollten, hätte ich nicht für möglich gehalten. Damals erschien es utopisch, mein 38. Lebensjahr zu erreichen, für dieses Ziel hätte ich alles gegeben. Heute bin ich 42, hätte mit dem Schicksal also ein schlechtes Geschäft abgeschlossen. Die Zukunft ist wirklich völlig ungewiss - immer und für jeden.

Ich bin nicht nur dankbar, viel länger als erwartet gelebt zu haben, sondern auch, dass ich in eben diese Zeit hineingeboren bin. Im Vergleich zu Menschen in früheren Jahrhunderten bin ich ein richtiger Glückspilz, weil es heute so viele medizinischen Möglichkeiten gibt - wenn nicht zur Heilung, dann doch zumindest, um die Lebensqualität zu verbessern. Noch vor hundert Jahren wäre ich längst elendig zugrunde gegangen.

"Ich bin viel spontaner geworden"

Ich freue mich über jedes gewonnene Jahr, doch ich zähle nurmehr halbherzig. Das Zählen selbst hat keine wirkliche Bedeutung mehr für mich. Meine Freude gilt nicht der Zahl oder Ziffer, sondern den Erlebnissen, die mir in dieser Zeit geschenkt wurden. Es mag paradox klingen, aber ich lebe mehr, weil ich so wenig Zeit habe.

 Deshalb habe ich in den fünfeinhalb Jahren, die ich eigentlich tot sein müsste, vermutlich mehr erlebt als sonst in zehn Jahren. Und gewiss mache ich seitdem Dinge, die ich ohne meine Krankheit gar nie gemacht hätte. Ich bin viel spontaner geworden. Es kann passieren, dass ich heute entscheide, nächste Woche zehntausend Kilometer weg zu sein. Früher hätte ich das nicht so einfach getan.

Reisen ist für mich heute fast das Wichtigste, denn Reisen verlängern mein Leben: Je mehr ich erlebe, desto mehr lebe ich auch. Eine Reise, egal an welchen Ort der Welt, ist für mich besonders verdichtete Zeit, und obwohl während meiner Reisen die Zeit nur so fliegt, kommt sie mir im Nachhinein immer ganz lange vor.

"Als Todkranker lebt man wirklich intensiver"

Das ist in der Tat eine seltsame Eigenschaft der Zeit: Sie kehrt ihren Charakter später quasi ins Gegenteil um, und ihre Dauer verändert sich in der Wahrnehmung. Ich stelle mir manchmal einen alten Museumswächter vor, der 40 Jahre lang Tag für Tag durch die immergleichen Gänge schlurft. Wenn man ihn später nach seinem Arbeitsleben fragt, kommt es ihm vermutlich vor, als wären es vier Monate gewesen, weil nichts passierte. Er hat also 39 seiner 40 Arbeitsjahre gar nicht wirklich gelebt. Ich versuche es umgekehrt zu machen: Aus vier Monaten gefühlte vier Jahre zu zaubern. Dazu begebe ich mich in neue Situationen, und die erlebe ich auf Reisen am einfachsten.

 Es muss dabei nicht immer alles angenehm sein, wichtig ist nur, dass sich etwas in mir regt. Und wenn ich zum Beispiel bei einer Tour am Grand Canyon stehe, wird mir plötzlich sehr bewusst, welche unglaubliche Ehre es eigentlich ist, an diesem Spiel der gewaltigen Kräfte und Zeiträume der Erde und des Universums teilhaben zu dürfen. Es tut gut, sich manchmal so klein und unbedeutend zu fühlen. Die Sonne wird noch Milliarden Jahre aufgehen, für sie spielt es keine Rolle, dass es mich einmal gegeben hat. Ich bin nur ein Staubkorn in der Zeit.

In solchen Momenten macht es mir nicht viel aus zu sterben. Aber leider gibt es keinen Dauerzustand im Leben, deshalb finde ich es an manchen anderen Tagen wieder ganz schrecklich, dass meine Zeit bald um ist. Als Todkranker lebt man wirklich intensiver, im positiven wie im negativen Sinne. Dabei halte ich die Aufforderung: "Carpe diem!" - Nutze den Tag, nutze jede Sekunde! - für Unsinn. Das ist letztlich unmöglich und erzeugt nur Leistungsdruck.

"Zeit kann manchmal auch ein Feind sein"

Natürlich weiß ich Zeit heute mehr zu schätzen als je zuvor, aber ich versuche damit nicht verbissen umzugehen. Zeit ist ein scheues Reh. Wenn man sie mit Gewalt zu halten versucht, flüchtet sie erst recht, und man hat gar nichts davon. Es ist ein fragiles Spiel zwischen der Wahrnehmung der Zeit und dem Vergessen der Zeit, ich beherrsche es noch lange nicht. Das dürfte auch ein zu hohes Ziel sein, aber ich werde darin immer besser. Ich jage nicht permanent schönen Momenten hinterher, aber ich lasse auch kaum einen an mir vorbeihuschen, ohne mich spontan daran zu erfreuen. Auch der Alltag ist ja voll davon, man muss letztlich nur die Augen offen halten.

 Fernsehen dagegen ist ein schrecklicher Zeitkiller. Wie viel Zeit meines Lebens ich mit sinnlosem TV-Konsum vergeudet habe! Heute schaue ich zu Hause in Markgröningen nur noch sehr selektiv, weil anderthalb Stunden so wertvoll sind. Nach einem schlechten Film oder einem mäßigen Buch fühle ich mich regelrecht um meine Lebenszeit betrogen.

Zeit kann manchmal auch ein Feind sein. Auf einer fatalen Reise nach Thailand vor drei Jahren erlebte ich die schlimmste Woche meines Lebens. Ich lag acht Tage lang hilflos und allein mit einem Hand-Fuß-Syndrom, bei dem sich die Haut an mehreren Körperstellen zugleich ablöst, in einem Bungalow und hatte Schmerzen wie noch nie zuvor.

"Mein "Zeitfenster" verengt und erweitert sich permanent"

Angst, Durst, Hunger und die Einsamkeit trieben mich zusätzlich fast in den Wahnsinn, ich halluzinierte und fiel sogar zwischenzeitlich ins Koma. Ich kenne mich zwar mit Schmerzen aus, so wie die meisten langjährigen Krebspatienten, doch das war ein realer Horror, den ich mir nie hätte ausmalen können.

 Und das für jede Sekunde jedes Tages. Eine Stunde kam mir vor wie ein Monat und ein Tag wie ein Jahr. Seit dieser absoluten Grenzerfahrung ist jeder Tag ohne Schmerzen eine "gute Zeit" für mich, und selbst mein Tod wird vermutlich nicht so schrecklich werden wie jene Zeit der Leiden in Thailand. Sie ist für immer Vergangenheit - zum Glück. Aber dank dieser acht Tage gibt es jetzt ein Buch aus meiner Feder. Ich habe es nach Thailand geschrieben. Während ich erlösche, löst dieses Buch bei mir völlig unbekannten Lesern ein spannendes Eigenleben aus, das ich ein Stück weit mitverfolgen kann.

Mein "Zeitfenster" verengt und erweitert sich permanent - je nach meiner gesundheitlichen Situation. Mal bin ich kurz vor dem Ende und bereite mich schon wieder auf den Tod vor, dann hilft plötzlich doch noch ein Medikament, das mich für einige Monate über Wasser hält. Ich plane nur wenig und habe außerdem gelernt, notfalls alles Schlimme, was weiter weg in der Zukunft liegt als zwei Tage, möglichst gut auszublenden.

"Manchmal kann ich mein Glück nicht fassen"

Die anderen in meiner Umgebung planen ihr Leben aber natürlich weiterhin ganz normal. Manchmal kollidiert meine Zeit deshalb mit der Zeit der anderen, dann fühle ich mich plötzlich sehr einsam. Zum Beispiel, wenn ich mit meinen Freunden ins Kino gehe, der Film aber ausverkauft ist und irgendjemand daraufhin sagt: "Ach, was soll's, dann holen wir uns in einem Jahr die DVD." Ohne etwas zu sagen - will ja nicht die Stimmung verderben - denke ich dann vor mich hin: "Ja, ihr schon.

 Ich vermutlich nicht." Oder wenn mir gesagt wird: "Im Dezember feiere ich meinen runden Geburtstag, du musst auch kommen!" Dann denke ich: "Sehe ich auch so, dass ich unbedingt kommen muss. Aber wer weiß, ob ich dann überhaupt noch lebe oder in der Lage bin, aus dem Bett zu steigen. Trotzdem: Danke für die Einladung."

Und doch geschieht immer wieder vieles, was ich früher nicht mehr zu hoffen wagte. Vor drei Jahren zum Beispiel lag ich mit Freunden an ihrem Bauernhof auf einer Wiese in einer unbeschreiblichen Sternennacht, wie es sie auch in dünn besiedelten Gebieten selten gibt. Ich war mir sicher: einen solchen Sternenhimmel werde ich nie mehr sehen, nur die anderen. Und wie ist es gekommen? Ich habe in den Jahren danach noch mehrere besondere Sternennächte sogar mit eben diesen Freunden erlebt. Manchmal kann ich mein Glück nicht fassen. Genauso wenig wie die Zeit.