Dreimal wäre Erich Schmid fast gestorben. Dreimal kehrte er zurück ins Leben: „Zeit ist für mich heute ein anderes Wort für Glück.“

Stuttgart - Das Schlimmste ist das Warten. Man wird auf vieles vorbereitet, nicht aber auf das Warten. In der Schule lernt man Deutsch, Mathematik, Erdkunde und Biologie. Das Fach "Warten" steht nicht auf dem Stundenplan. An Warten ist man nicht gewöhnt. Früher musste ich nie lange warten. Meine Tage waren vom Tun bestimmt, von Terminen, von Arbeit, von Familie. Plötzlich änderte sich mein Leben dramatisch. Man kann sich das vorstellen wie bei einem Eilzug, der aufs Abstellgleis geleitet wird. Mein Abstellgleis war ein Krankenbett. Von einem Tag auf den anderen hatte ich unendlich viel Zeit - und das lange Warten begann.

 

Ich bin in Markgröningen aufgewachsen. Während andere das Jahr in Frühling, Sommer, Herbst und Winter unterteilten, gab es bei uns die Zeit vor dem Schäferlauf und die Zeit nach dem Schäferlauf. Genau betrachtet war die Zeit nach dem Schäferlauf schon wieder die Zeit vor dem Schäferlauf. Dieses besondere Fest hat unsere Zeiteinteilung geprägt. Mein Vater, Maurer von Beruf, hat nach dem Schäferlauf am Bartholomäustag Ende August die langen Unterhosen angezogen und sich damit auf die kalte Jahreszeit und den Winter vorbereitet. Heute teilt kein Mensch mehr in meiner kleinen Stadt die Zeit so ein, was wohl nicht nur daran liegt, dass die lange Unterhose aus der Mode gekommen ist.

Was mich betrifft, gibt es einen Tag, an dem ich angefangen habe, die Zeit neu einzuteilen. Es war ein Tag vor Weihnachten im Jahr 1975. Seitdem gibt es eine Zeit davor und eine Zeit danach. Davor war ich ein junger Mann mit Zukunft. Danach war ich ein Mann, der nicht wusste, wie lange diese Zukunft dauern würde.

Etwas in mir zerstörte meine Leber

Mit dem Vorher war ich sehr zufrieden. Ich bin auf dem Land in einem guten Elternhaus groß geworden. Ich ging zur Schule, und nebenbei arbeitete ich im Weinberg meines Vaters. Mir war nie langweilig. Es gab kein Warten, höchstens mal auf den Bus, aber das war nicht der Rede wert. Wenn man sich nicht allzu ungeschickt anstellte, konnte man zu meiner Zeit durch Fleiß auch mit dem Hauptschulabschluss vorankommen. Ich wurde Bankkaufmann. In der örtlichen Volksbank lernte ich meine Frau kennen. Wir heirateten 1983. Drei Jahre später kam unser Sohn Andreas auf die Welt. Es ging mir damals noch ganz gut, obwohl ich längst wusste, dass etwas nicht stimmt. An jenem Tag vor Weihnachten 1975 hatte ich Blut gespendet. Danach bekam ich einen Brief, in dem stand, dass die Werte nicht gut seien. Es stellte sich heraus, dass ich an einer seltenen Autoimmunkrankheit leide. Etwas in mir zerstörte meine Leber.

Im Herbst 1987 war ich fast am Ende. Ich erbrach Blut, danach wurde ich monatelang krankgeschrieben. Jetzt musste ich lernen zu warten. Ich wartete auf eine passende Spenderleber. Mir war bewusst, dass es sehr lange dauern kann, vielleicht zu lange. Es warten viel mehr Kranke auf ein Organ, als es Spenderorgane gibt. Ich hatte ständig einen Piepser bei mir und saß auf gepackten Koffern. Es gab damals noch keine Handys. Ich wartete, bis sich die Klinik über den Piepser meldete. Manchmal gab es Fehlsignale. Das Ding klingelte und die Hoffnung keimte - und dann war wieder nur Leere.

Zum ersten Mal machte ich mir tiefgehendere Gedanken über die Zeit und über das Ende. Ich fühlte, wie schnell fünf Minuten in einer launigen Runde unter Freunden vergehen. Und wie lange fünf Minuten beim Warten in einem Krankenbett sein können. Andere verfügten über meine Zeit, von der ich mehr hatte, als mir lieb war. Ich lag da und konnte nichts tun. Außer mit Mitpatienten reden, manchmal ein gutes Buch lesen, telefonieren, nachdenken, Briefe schreiben. Verlorene Zeit? Ich glaube im Rückblick nicht, dass sie verloren war, sie hatte nur eine andere Bedeutung.

Der Himmel soll warten

Meine Haut war inzwischen gelb, mein Körper abgemagert. Ich harrte aus. Tage kamen mir wie Wochen vor. Im Juni 1989 hatte das Warten nach fast zwei Jahren ein Ende. In acht Stunden wurde mir in der Medizinischen Hochschule Hannover eine neue Leber eingepflanzt. Solche Eingriffe waren damals noch sehr schwierig. Deshalb besitze ich auch eine Besonderheit: Ich war der erste Lebertransplantierte aus dem Kreis Ludwigsburg.

Langsam erholte ich mich und konnte es kaum noch abwarten, endlich wieder nach Hause zu kommen - und an meinen Schreibtisch. Am. 15. Januar 1990 fing ich wieder an zu arbeiten. Ein Jahr später kam unsere Tochter Ramona zur Welt. Ich glaubte wieder an eine Zukunft. 1997 feierten wir ein großes Fest. Unsere Gäste brachten ein bisschen Geld mit und wir spendeten es für eine Stiftung, die Menschen nach Organtransplantationen hilft. Nie wieder wollte ich warten müssen. So hoffte ich jedenfalls. Zwei Jahre später wurden die Leberwerte schlechter. Die Autoimmunkrankheit kam zurück. Inzwischen war ich 46. Wieder fühlte ich meine Kräfte schwinden. Ich musste meinen Beruf aufgeben. Rollentausch war angesagt. Meine Frau ging jetzt arbeiten, ich kümmerte mich um die Kinder und den Haushalt.

Die Leber ist die Zentrale des Stoffwechsels, das Kraftwerk des Körpers, seine Entgiftungsstation. Meine versagte mehr und mehr ihren Dienst. Ich konnte nicht mehr an die Sonne, weil sich sofort Hautpusteln bildeten. Es gab einen Film, der hieß "Der Himmel soll warten". Darin stirbt ein Mann bei einem Autounfall. Im Himmel sagte man ihm, dass sein Tod ein Irrtum war. Auch ich dachte manchmal: "Es kann nur ein Irrtum sein. Der Himmel soll warten!" Doch es war kein Irrtum. Als es kaum noch ging, kam wie aus dem Nichts ein Anruf aus Hannover. Die Ärzte hatten das passende Organ. Die zweite Lebertransplantation. Diesmal gab es Komplikationen. Als ich erwachte, schien alles gut zu sein. Die Leberwerte waren zunächst besser als nach meiner ersten Transplantation. Doch leider täuschte der Befund, wenig später war das Organ von Viren und Bakterien befallen. Die Ärzte hielten mit hochdosierten Medikamenten dagegen. Es half nichts. Ich wurde immer schwächer. Mein 1,86 Meter großer Körper wog bald weniger als 50 Kilo. Es bedurfte einer dritten Transplantation, um mein Leben zu retten. Ich wartete und dachte darüber nach, ob ich mich vielleicht zu selbstsüchtig an meinem bisschen Dasein festhielt. Monatelang lag ich im Krankenhaus. Das Warten ist das Schlimmste.

Die Kinder standen schon am Sterbebett

Ende Mai 2007 - ich lag jetzt schon seit Dezember 2006 im Krankenhaus - meldeten die Ärzte, dass sie ein passendes Organ hätten. Leber Nr. 3. Ich nahm das Geschenk an, vor allem wegen der Kinder. Ich habe mir das nicht leicht gemacht. Es folgte eine Operation, bei der ich mehrfach Nahtoderfahrungen hatte. Es stand so schlecht um mich, dass die Ärzte meine Kinder von zu Hause ans Sterbebett holten. Meine Frau war ja schon monatelang bei mir in Hannover.

Mehrere Operationen zogen sich mit Unterbrechungen über volle drei Tage hin. Insgesamt 200 Blutkonserven wurden mir in den Körper gepumpt. Die Operateure gaben alles, und wahrscheinlich war da etwas in mir, das ihnen geholfen hat. Ich kam zurück, wieder einmal.

58 Jahre alt bin ich jetzt, und seit vier Jahren tut mir meine neue Leber gute Dienste. Es ist ein barmherziger Trick der Seele, dass man im Rückblick alles weicher zeichnet. Deshalb sehe ich das, was hinter mir liegt, heute nicht als den blanken Horror. Im Gegenteil. Ich habe eine Zeit erlebt, in der ich Hilfe erfuhr, Zuspruch und Rückenstärkung. Eine Zeit, in der ich neue Freundschaften entdeckte - und alte Freunde neu kennenlernte. Da war ein Chef, der mir lange Jahre trotz permanenter Abwesenheit und fernab jeglicher Planzahlen die Arbeitsstelle sicherte. Da war die Bettenschieberin in der Klinik, die mich in den vielen Monaten meiner Aufenthalte in ihr Herz geschlossen hatte, mich in den Arm nahm und in Tränen ausbrach, als sie mich nach mehreren Wochen Intensivstation und Koma wieder auf die Station zurückschieben durfte. Da war ein Professor, der sich um mich sorgte und bis heute zu mir Kontakt hält. Der Arbeitgeber meiner Frau zeigte Verständnis für viele Monate der Abwesenheit. Der beste Freund unserer Familie war immer da, hat neben anderen oft geholfen. Er ist leider nicht mehr unter uns. Er wird immer in meinen Gedanken sein. - Alles besondere Menschen, denen ich unter anderen Umständen nie so nahe gekommen wäre.

Zeit kann man nicht festhalten

Nach drei Lebertransplantationen, vor denen ich jeweils fast gestorben wäre, ist Zeit für mich heute ein anderes Wort für Glück. Beides, Zeit und Glück, kann man nicht festhalten, nicht greifen, nicht riechen, nicht schmecken. Ja, ich hatte Glück. Kein Glück im Unglück. Einfach nur Glück. Ohne die Organspenden gäbe es mich nicht mehr. Nur weil Menschen, die ich nicht kannte, ihre Leber für mich gaben, kann ich mir heute Gedanken über die Zeit machen. Ihren Angehörigen, die in schwerer Stunde zugestimmt haben, bin ich unendlich dankbar. Ohne sie wäre meine Tochter nie geboren worden. Sie bereichert wie ihr Bruder unseren Alltag. Ramona ist vom Wesen her ganz der Vater.

Ich weiß, dass ein transplantiertes Organ nicht ewig hält. Diese Erfahrung habe ich schon zweimal durchlebt. Jeder Tag, an dem es mir gutgeht, ist ein besonderer. Es werden auch wieder andere Tage kommen, irgendwann. Ich warte nicht darauf. Ich lebe.