Sibylle Krause-Burger.  Foto: dpa

Ein gar nicht so unfreundlicher Novemberabend in der alten, noch nicht aufgehübschten, dafür aber sehr anheimelnden Altstadt von Tübingen. Ich saß im Kreis von Kommilitonen in einem Café hoch über dem Neckar, nicht weit entfernt vom Hölderlinturm. Plötzlich war dieser Schock im Raum. Vielleicht kam die Nachricht aus dem Radio, vielleicht hat ein Gast sie mitgebracht. Ich weiß es nicht mehr. Am späten Abend, zu Hause bei den Eltern, dann die Szenen im Fernsehen: Jack und Jackie, die eben noch lächeln und winken, Jack, der zusammensackt, Jackie, die wie ein gejagtes Tier nach hinten Richtung Kofferraum krabbelt. Weltprägende und weltverändernde Bilder wie viele Jahre später die Zerstörung der Zwillingstürme in New York. Wir jungen Leute von damals haben mit den Amerikanern gelitten. Ihren Präsidenten haben wir verehrt. Er war nicht nur ein Berliner, er war einer von uns.

Sibylle Krause-Burger lebt als politische Journalistin und Buchautorin in Stuttgart.

Wolfgang Dauner: Ungebrochen tobte der wilde Jazz

Wolfgang Dauner.  Foto: dpa

Ich erfuhr die Nachricht im Stuttgarter Fernsehstudio in der Villa Berg. In der Serie „Der Bürgermeister von Bärenbach“ begleitete ich am Klavier Willi Reichert. Die Folge, die wir an diesem Tag drehten, hieß „Der Millionär“. Willi Reichert sang das Volkslied „Jetzt gang i ans Brünnele drink aber net“. Wir waren alle fassungslos, mitten in der heilen Welt eine Nachricht, deren Tragweite wir nicht abzuschätzen wussten. Aber ungebrochen tobte am Abend der wilde Jazz in der heißen Hochphase der Clubs in Stuttgart, in der legendären Atlantic Bar mit meinem Trio Eberhard Weber und Fred Braceful.

Wolfgang Dauner (Jahrgang 1935) ist Jazzmusiker und lebt in Stuttgart.

Senta Berger: Wer einem der nächste ist

Senta Berger.  Foto: dpa

Jeder Mensch meiner Generation erinnert sich an den Tag, an dem John Kennedy ermordet wurde, und auch daran, wo und wie er es hat erfahren müssen.

Ich war im November damals in Rom. Ich habe meinen ersten italienischen Film gedreht. Am Abend nach der Arbeit kam ich in mein Hotel, in dem auch Bernhard Wicki wohnte. Er drehte damals gerade „Besuch der Alten Dame“ mit Ingrid Bergman und Anthony Quinn. Er hatte auch berühmte deutsche Schauspieler besetzt. Als ich in die Hotelhalle kam, sah ich an der Bar Bernhard Wicki mit Ernst Schröder und Richard Münch sitzen. Sie betranken sich. Bernhard oder Bernie, wie wir sagten, zog mich zur Theke und schrie: Er ist tot! Er ist tot! Ermordet! Sie haben es eben im Radio gebracht!

Langsam verstand ich. Bernie weinte. Ernst Schröder umarmte mich schmerzhaft fest. Ich bekam kaum Luft. Ich war wie gelähmt. Ich konnte es nicht glauben. Wir kannten noch keine Einzelheiten. Ich wollte es nicht glauben und musste es dennoch. Ich ging in mein Zimmer und rief den Mann an, den ich später heiraten sollte. Nicht meine Eltern, nicht meine Freunde in Wien. Ich rief den jungen Mann an, den ich noch kaum kannte, der mir aber, und das erkannte ich im Bruchteil einer Sekunde, der Nächste war. Ich weinte, und er weinte auch. Es war eine Tragödie, und wir versuchten zu verstehen und uns zu trösten.

Senta Berger ist Schauspielerin und lebt mit ihrem Ehemann Michael Verhoeven in München und Berlin.

Louis Begley: „Der Präsident ist erschossen worden“

Louis Begley.  Foto: achim zweygarth

Ich war an diesem Freitag mit einem Freund zum Squash verabredet, um halb eins im Harvard Club. Wir beendeten das Match – ich gewann –, duschten, zogen uns an und gingen hinunter in die Grillbar zum Mittagessen. Dass ich mich daran erinnern kann, ein Club-Sandwich und einen Eistee bestellt zu haben, ist nicht weiter bemerkenswert; alles an jenem Tag ist mir in lebhafter Erinnerung. Als wir das Clubhaus verließen, sagte der Portier mit gedämpfter Stimme: Der Präsident ist erschossen worden. Welcher, neckte ich ihn, der Präsident der Universität Harvard? Nein, erwiderte er mit derselben gedämpften Stimme, der Präsident der Vereinigten Staaten. Ich drückte meinem Freund die Hand und rannte in mein Büro. Die ganze Park Avenue entlang waren die Fahnen auf halbmast; Chauffeure standen neben den geöffneten Türen von Limousinen und hörten die Radionachrichten aus Dallas.

Louis Begley (Jahrgang 1933) ist Schriftsteller und Anwalt und lebt in New York.

T. C. Boyle: Willkommen in der wirklichen Welt

T. C. Boyle.  Foto: dpa

Ich war im Unterricht in der High School, als am späten Vormittag die Nachricht eintraf. Wir hörten bloß, es sei auf den Präsidenten geschossen worden, aber ich dachte mir nicht viel dabei, schließlich hatte ich schon hundertfach in Fernsehserien gesehen, wie Helden angeschossen wurden (vor allem in Western). Wenn auf Helden geschossen wurde, waren sie immer und ausschließlich am Oberarm getroffen, und die Leute von Kostüm und Maske hatten sie für die folgende Szene mit einer Armschlinge versehen. Kein Problem. Nur ein kleiner Kratzer. Als ich aus der Schule nach Hause kam und das Fernsehen anschaltete, erkannte ich, wie falsch ich lag. Der Präsident war mit einem großkalibrigen Gewehr in den Kopf geschossen worden. Keine Kostüm- oder Maskenbildnerin hätte da noch etwas machen können. Auf dem Kleid seiner Frau war Hirnmasse, um Himmels willen. Ein heftiger Willkommensgruß der wirklichen Welt für einen Jungen wie mich.

T. C. Boyle kam 1948 zur Welt und lebt als Schriftsteller in der Nähe von Santa Barbara im US-Bundesstaat Kalifornien.

Martin Walser: Zu viele Särge auf der Bühne

Martin Walser.  Foto: dpa

Das war tatsächlich leicht zu behalten. Am 23. November 1963 sollte in Stuttgart mein Stück „Überlebensgroß Herr Krott“ uraufgeführt werden. Regie Peter Palitzsch, gespielt von dem nichts als göttlichen Schauspieler Hans Mahnke, von der Genauigkeitsvirtuosin Edith Heerdegen, von der zu Herzen gehenden Mila Kopp, von dem über jede Regie erhabenen Hanns Ernst Jäger und vom prachtvollen Stuttgarter Ensemble. Ich durfte guter Dinge sein. Kam also schon um sechs ins Theater, kam allerdings nur bis zur Pforte, weil der milde Pförtner ganz milde sagte: Heute wird nicht gespielt. Kennedy ist ermordet worden. Das sah ich noch nicht gleich ein. Und wurde belehrt: Zu viel Särge auf der Bühne. Das geht nicht. Da musste ich allmählich begreifen. Mein überlebensgroßer Kapitalist Krott, dem zu seinem Missvergnügen alles, was er unternimmt, glückt, hat Särge um sich herum, darin Leute, die ihm im Weg waren, und andere. Das also wurde mir zum Uraufführungsverhängnis. Ich gebe zu, mein Mitgefühl mit dem Ermordeten hielt sich damals in Grenzen.

Martin Walser (geboren 1927) ist Schriftsteller und lebt in Überlingen am Bodensee.

Thomas Löffelholz: Sensation in der Bleizeit

Thomas Löffelholz.  Foto: StZ

Es war Abend, der Wirtschaftsteil der „Stuttgarter Zeitung“ an jenem 22. November fertig. Ganz oben die gute Nachricht des Tages: „Autoindustrie mit neuen Rekorden“. Der Wirtschaftsredakteur stand zufrieden vor dem mit Bleizeilen gefüllten Satzschiff. In ein paar Minuten würde daraus die halbrund-gebogene, zentnerschwere Gussform der Zeitungsseite entstehen. Jetzt noch ein schneller Blick in den Fernschreibraum. Dort brachten sechs oder acht der vorsintflutlichen „Fernschreiber“ leise hämmernd die letzten Neuigkeiten zu Papier.

In der Tür stürzt mir die Kollegin mit einem Blatt Papier entgegen: „Attentat auf Kennedy“! Wir rennen in die Setzerei. Auf der drei Meter hohen, tonnenschweren Setzmaschine wird die Meldung Zeile für Zeile in Blei gegossen: Der Präsident schwer verletzt, auf dem Weg ins Krankenhaus. Am Umbruchtisch fügte der Metteur die zwanzig noch heißen Zeilen in die Titelseite ein. Da spuckt der Fernschreiber die Sensation aus: „Kennedy tot“. Keine Chance, den bleigegossenen Text noch zu ändern. Die Fernzüge, die die Zeitungspakete erreichen mussten, würden nicht warten. Nur in die – aus einzelnen Buchstaben von Hand zusammengefügte – Schlagzeile hätte man die aufrüttelnde Nachricht noch einfügen können: „Kennedy tot“. Doch der verantwortliche politische Redakteur entschied: „Was nicht in der (bleigegossenen) Meldung steht, kann auch nicht in der Schlagzeile stehen.“ Dass der Journalist wie in unseren Tagen Texte in den Computer schreibt, die direkt auf die Zeitungsseiten wandern – vor 50 Jahren ein absurder Gedanke. Wie hat sich die Welt verändert!

Was natürlich nicht bedeutete, dass das Blatt in den folgenden Minuten und Stunden nicht immer wieder aktualisiert wurde. Kennedys Tod füllte in der Stadtausgabe der „Stuttgarter Zeitung“ die ganze erste Seite samt Leitartikel und große Teile der dritten Seite. Man war schnell. Und doch – als ich in der Nacht mit der Straßenbahn nach Hause fuhr, ahnte kaum einer der Mitfahrer, was ich wusste: John F. Kennedy, der Mann, der Amerika verändert hatte, war tot.

Es gab kein Smartphone, kein iPad, noch nicht einmal ein tragbares Miniradio, um die Menschen in der Straßenbahn zu informieren: Kennedy ist tot. Wobei man auch fragen kann: ist der Fortschritt, dass wir dies alles heute sekundenschnell wissen, ein Fortschritt? Am Ende kam die Nachricht früh genug.

Thomas Löffelholz (geboren 1932) war Redakteur der StZ von 1959 bis 1995, davon zwölf Jahre als Chefredakteur.