Das Stadtmuseum möchte Stuttgarts Geschichte von 1950 bis heute mit den Bürgern erarbeiten. Im Rahmen dieses Projekts spricht die StZ mit Stuttgartern über ihre Jugend. Willy Brandt, Ölkrise, Deutscher Herbst – die 70er waren für Harald Schukraft geprägt von Hoffnungen und Enttäuschungen.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Das Stadtmuseum möchte Stuttgarts Geschichte von 1950 bis heute mit den Bürgern erarbeiten – jeder kann mitwirken. Im Rahmen dieses Projekts spricht die StZ mit sechs namhaften Stuttgartern über ihre Jugendzeit. Der Historiker Harald Schukraft, Jahrgang 1955, blickt auf die Siebziger zurück.

 

Schukraft liebte politische Diskussionen und klassische Musik: Er war in den 1970er Jahren fast jeden Abend in Stuttgart unterwegs. Willy Brandt, Ostpolitik, Ölkrise, Deutscher Herbst – das Jahrzehnt war für den Historiker geprägt von großen Hoffnungen und starken Enttäuschungen.

Herr Schukraft, was ist Ihre stärkste Erinnerung an die 1970er Jahre?
Wir waren extrem politisiert. Wir haben manchmal sogar den Unterricht im Dillmann-Gymnasium boykottiert, um Bundestagsdebatten im Fernsehen verfolgen zu können. Wir haben einfach den Fernseher ins Klassenzimmer geschleppt. Einmal ging es dabei um das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt 1972. Da war ein Brodeln bei uns – unglaublich.
Waren das noch die Nachwehen der 68er Jahre?
Es hing mit dem Regierungswechsel zur SPD-FDP-Koalition im Jahr 1969 zusammen. In mir und in vielen anderen Menschen hat das einen großen Enthusiasmus ausgelöst. Willy Brandt hat ein neues Menschenbild propagiert, das hat uns elektrisiert.
Ihr politisches Engagement hing also mit der Person Willy Brandts zusammen?
Ganz klar. Er war sehr charismatisch. Ich war damals ein echter Sozialliberaler. Ich hatte sogar sämtliche Wahlprogramme gesammelt – erst kürzlich habe ich sie weggeworfen. Ich war zwar nie Parteimitglied, aber ich war ganz auf der liberalen Seite einer FDP mit einer großen sozialen Komponente, wie sie Hildegard Hamm-Brücher vertreten hat. Ganz typisch war dieser Aufbruch: Der Mensch trägt Verantwortung für sich und für andere, und er trägt in sich die Chance, sich selbst zu verwirklichen. Das war das Credo, das uns alle damals sehr mitgerissen hat.
Warum kam das gerade in den 1970er Jahren auf?
Das hing an den Personen, an Gustav Heinemann, an der Koalition SPD-FDP mit Brandt und Scheel, und es hing auch zusammen mit der Öffnung nach Osten nach den Ostverträgen. Die Versöhnung mit dem Osten war greifbar. Es kam eine neue Sicherheit auf, auch eine neue Behaglichkeit. Jetzt beginnt eine neue Zeit, dachten wir, und wir befanden uns in permanenter Aufbruchstimmung. Aber es war auch eine Zeit mit heftigsten Diskussionen. Gerade mit Vertriebenen, mit Lehrern. Da gab es bitterste Diskussionen, die oft unterhalb der Gürtellinie lagen. Einer hat immer gesagt: ‚Ihr benehmt euch wie der Rotz am Ärmel, geht doch in die DDR‘. Und dann bekam er regelmäßig einen Tobsuchtsanfall.
Ist diese Aufbruchstimmung aber nicht schnell wieder in sich zusammengebrochen, wenn ich an die Ölkrise oder an den Deutschen Herbst denke?
Unser Liberalismus hat vielleicht bewirkt, dass wir etwas zu blauäugig waren, was die RAF betrifft.
Sie haben das nicht ernst genommen?
Wir haben anfangs nicht gespürt, dass es in eine kriminelle Richtung gehen könnte. Was die Leute der RAF zunächst vertreten haben, war eine Vision. Aber die Mittel wurden immer brutaler. Da waren wir zu naiv.