Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)
Aber für Sie stand in den 1950er Jahren schon die klassische Musik im Vordergrund?
In den Seminaren wurde der theologische Nachwuchs ausgebildet; da war Musik wichtig. Die künftigen Pfarrer sollten ihre Gemeinde auf dem Klavier oder der Orgel begleiten können. Das hat auf meinen künftigen Beruf hingedeutet, aber nicht so, dass ich diesen schon geplant hätte.
Helmuth Rilling Foto: dpa
War diese klassische Musik auch ein Gegenentwurf zu den schrecklichen Erlebnissen des Krieges?
In gewisser Weise schon. Das war ein ganz anderer, unverwundbarer Bereich, für den man sich begeistern konnte und der Wahrheiten ausspricht, die vorher verborgen waren. Aber es war vor allem eine Zeit, in der die Bedrängnis überall spürbar war. Ich erinnere mich, dass wir mit unserem Musiklehrer ein Orchester gebildet hatten. Wir wollten eine Haydn-Sinfonie aufführen. Wir hatten zwar einige Streicher, aber keine Bläser; die musste ich auf dem Klavier spielen. Und es gab keine Pauken, so dass der Musiklehrer immer mit seinem Fuß auf das Podium schlug, wenn die Pauken zu spielen hatten.
Stuttgart lag in Trümmern.
Von der Stiftskirche waren nur der Turm und der Chor stehen geblieben. Das Kirchenschiff war zerstört. Da hat man damals den Chor mit einer Betonwand abgeschlossen, um ihn als kirchlichen Raum nutzen zu können. Mit der Gächinger Kantorei haben wir in diesem Chorraum musiziert. Die Liederhalle war eine Ruine.
Wie haben Sie selbst gewohnt?
Mein Vater kam aus der Gefangenschaft zurück und wurde Lehrer am Mörike-Gymnasium. Während meines Musikstudiums ab 1952 wohnten wir in der Hasenbergstraße. Wir waren fünf Kinder, da gab es nicht viel Platz in der Wohnung. Das Musikzimmer war der größte und vielgenützte Raum.
1953 fuhr der letzte Lastwagen auf den Monte Scherbelino, die Trümmerbeseitigung war abgeschlossen. Ging es von da an bergauf?
Das ging es schon früher, ab der Währungsreform 1948. Das war der Moment, als man sagte: Das wird wieder was mit uns. Es gab diesen unbändigen Willen, wir wollten raus aus dieser Misere, wir wollten was Vernünftiges machen. Plötzlich gab es überall Baustellen – im vielfältigsten Sinne. Der Bauboom war unglaublich. Aber ich bedauere, dass auch wertvolle Häuser nicht wiederaufgebaut, sondern abgerissen wurden, wie das Hotel „König von England“ am Schillerplatz. Das war ein Prachtgebäude.
Der Wiederaufbau ist eng verknüpft mit dem damaligen OB Arnulf Klett. Haben Sie ihn gekannt?
Meine Erinnerung an ihn ist sehr positiv. Er war ein Mann, der mit vielen Situationen geschickt umgehen konnte, und er war kein autoritärer Mensch. Einmal hatte ich ein Orchester aus Brünn eingeladen, um gemeinsam mit meinen Chören das Brahms-Requiem aufzuführen. Aber ich dachte, wir sollten den Menschen auch etwas von der Stadt zeigen, vielleicht bei einer Stadtrundfahrt. Da habe ich um einen Termin bei Klett gebeten. Ich saß dann im Vorzimmer und wartete, eine Stunde, eineinhalb Stunden, und schließlich wurde ich vorgelassen, und Klett sagte ohne Vorrede: „Herr Rilling, Sie kriegen natürlich das Grundstück. Entschuldigen Sie, dass ich Sie solange habe warten lassen.“ Ich schüttelte natürlich verständnislos den Kopf – und so ergab sich, dass Klett glaubte, ich sei der Rilling von der gleichnamigen Sektkellerei. Diese Verwechselung war ihm dann so peinlich, dass er eine Stadtrundfahrt und sogar ein Essen im Ratskeller bezahlt hat.