Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)
Die 50er Jahre waren ein Jahrzehnt des Wandels – vom Trümmerland zum Wirtschaftswunder?
Ich denke schon. Am Ende der 50er Jahre war ein unglaublicher Aufstieg da. Ich erinnere mich an das Café Stöckle, unser Stammlokal, wo wir oft nach den Chorproben im Gedächtnisgemeindehaus hingingen. Es gab wieder genug zu essen. Wissen Sie, die Menschen damals wollten nicht was Großartiges machen, die wollten gut und solide arbeiten und vorsichtig die Stadt wieder aufbauen. Das gefiel mir.
Rilling an der Orgel im Jahr 1958 Foto: Bachakademie
Man schaute also nach vorne – die Verbrechen der Nazizeit waren kein Thema?
Die Generation vor mir war der Meinung, dass man das hinter sich lassen sollte. Jetzt machen wir etwas Neues, jetzt machen wir etwas Besseres, sagten sich die Leute.
Auch Sie selbst haben darüber nie nachgedacht, obwohl Sie um Ihre Kindheit betrogen wurden?
Ich erinnere mich an Gedanken mit einer solchen Tragweite nicht. Dass es zwei Deutschlands gab, das hat uns viel mehr bewegt. Ich bin deshalb bei meiner ersten ‚Auslandsreise’ Ende der 1950er Jahre auch nicht nach Frankreich gefahren, sondern zu einer Konzertreise in die ‚Ostzone’, nach Thüringen. Das war auch ein politisches Signal. Auch die Gründung des Südweststaates Baden-Württemberg war für uns wichtig. Es war nicht so, dass wir von Politik gar nichts wissen wollten. Nur schauten wir auf die aktuellen Themen. Wir blickten nach vorne.
Sie sagten schon, dass Sie sehr schnell angefangen haben, internationale Kontakte zu knüpfen. War dies ein bewusster Beitrag, Deutschland aus der Isolation zu holen?
Ich bekam 1955 die Chance, nach meinem Studium für zwei Jahre nach Rom zu gehen. Dieser Aufenthalt hat mich geprägt.
Wie kam es dazu?
Das ist eine lustige Geschichte. Der Süddeutsche Rundfunk hatte in der Villa Berg eine wunderbare Orgel eingebaut und machte eine Serie mit Orgelkonzerten berühmter Organisten aus der ganzen Welt. Ich wurde als Helfer engagiert, der Notenblätter umdrehte oder Register zog. Eines Tages kam Fernando Germani, der seinerzeit Organist an der Peterskirche in Rom war. Germani lehnte meine Hilfe ab, er mache alles selbst. ‚Aber du darfst gerne zuhören’. Nach der Aufnahme: ‚Was machst du denn?’ – ‚Ich studiere hier.’ – ‚Und was?’ – ‚ Orgel.’ – ‚Na, dann spiel mal was.’ Als ich fertig war, meinte Germani: Musikalisch sei das sehr schön, aber technisch nicht so toll. ‚So, und jetzt gehen wir essen.’ Nach dem Essen: ‚Willst du bei mir in Rom studieren? Ich verschaffe dir ein Stipendium.’ Und so fuhr ich am Tag nach meinem Schulmusikexamen an der Stuttgarter Musikhochschule nach Rom.
Wie sind Sie hingekommen, mit dem Flugzeug?
Nein, ich fuhr mit meinem Lambretta-Moped die ganze Strecke nach Rom, mein Koffer war hinten drauf geschnallt. Ich brauchte drei Tage für die Fahrt. Rom war wichtig für mich, weil damals dieses Fenster nach außen auch für mich begann aufzugehen. Wir wurden uns jetzt unserer Nachbarn bewusst, und vor allem die älteren Menschen haben geradezu danach gelechzt, dass sie im Ausland wieder geschätzt wurden. Das war ein starkes Lebensgefühl.