Anne Frank wäre dieser Tage 90 geworden. Aus diesem Anlass hat die Schule, die den Namen des berühmten jüdischen Mädchens trägt, eine Zeitzeugin eingeladen. Deren Botschaft traf 70 Neuntklässler mitten ins Herz.

Möhringen - Rachel Dror ist recht klein und schmächtig. Das Sprechen fällt ihr nach einem Schlaganfall bisweilen schwer. Was sie zu sagen hat, muss sie ablesen, und weil sie mit ihren 98 Jahren nicht mehr so gut sieht, sind die Buchstaben extra groß gedruckt. Doch wer diese Rachel Dror trifft, der ist sofort ehrfürchtig. Auch im Musiksaal der Anne-Frank-Schule in Möhringen ist es am Dienstagvormittag mucksmäuschenstill, trotz der quälenden Hitze vor den Fenstern. 70 Augenpaare sind auf die Frau gerichtet, die ihre Geschichte erzählt. Die Geschichte einer jungen Jüdin, die dem Holocaust nur entkam, weil sie rechtzeitig zur Tante nach Palästina ausgereist war – und deren Eltern in Auschwitz den Tod fanden.

 

Drei neunte Klassen hören an diesem Morgen in der Anne-Frank-Schule, was die Zeitzeugin zu sagen hat. Sie ist nicht ohne Grund hier. Am 12. Juni wäre Anne Frank, die Namensgeberin der Möhringer Einrichtung, 90 Jahre alt geworden. Wenn sie nicht im Alter von nur 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen umgekommen wäre. Um ihrer zu gedenken, beteiligt sich die Schule an einem Aktionstag, den das Anne-Frank-Zentrum mit Sitz in Berlin initiiert hat. Er richtet sich gegen Antisemitismus und Rassismus und soll Jugendliche motivieren, sich für eine vielfältige, offene Gesellschaft einzusetzen. Bundesweit erinnern in diesem Jahr rund 40 000 Schüler in 250 Schulen an das Schicksal des jüdischen Mädchens. „Anne Frank ist eine wichtige Person für alle, die hier lehren und lernen“, erklärt der Lehrer Holger Viereck an diesem Morgen. „Wir sind eine Schule, die für Offenheit und Demokratie steht“, betont er. Ob ein solches Bekenntnis in diesen Tagen, in denen rechts motivierte Straftaten die Schlagzeilen beherrschen, wichtiger sei? Rachel Dror zuckt mit den Schultern: „Das hat es immer gegeben, nur im Untergrund.“

Ihre Eltern starben in Auschwitz

Was daraus aber erwachsen kann, das hat die Frau, die 1921 in Ostpreußen geboren wurde, am eigenen Leib erfahren. 1933 durfte sie plötzlich nicht mehr mit den Nachbarskindern spielen. „Ich habe das nicht verstanden. Bin ich dreckig? Stinke ich?“ Kurz darauf musste sie die Schule wechseln. Sie verfolgte, wie im November 1938 Synagogen in Flammen aufgingen und Menschen verschleppt wurden. Wie die Wohnung der Eltern demoliert, der Vater verletzt und Wertsachen beschlagnahmt wurden. Und sie musste, selbst schon in Palästina in Sicherheit, erfahren, wie die Eltern im Versteck in Italien vom deutschen Militär aufgespürt, nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht worden waren. Besonders bewegend: Der Vater war offenbar freiwillig mit seiner großen Liebe in den Tod gegangen, nachdem der KZ-Arzt Josef Mengele nur sie direkt nach der Ankunft als unbrauchbar fürs Arbeiten eingestuft hatte. „Da, wo du hingehst, will ich auch hingehen“, soll er gesagt haben. Stille im Saal. „Ich bin kein Mensch der Tränen. Ich lache auch. Aber ich bin knallhart in dem, was ich sage“, so Rachel Dror.

Warum Zeitzeugengespräche so wichtig sind

Nach 1981 ist es der zweite Auftritt der Wahl-Stuttgarterin in der Möhringer Schule. „Wir sind als Anne-Frank-Schule interessiert daran, dass Zeitzeugen kommen. Die Schüler jetzt gehören vielleicht zur letzten Generation, die Zeitzeugen befragen kann“, erklärt Holger Viereck. Und für diese Schüler hat Rachel Dror eine wichtige Botschaft: Jeder Mensch sei für das verantwortlich, was er tue. „Sie haben damals nicht gelebt. Es ist nicht Ihre Schuld“, gibt sie den Schülern mit, „aber Sie leben heute und sind verantwortlich für die Zukunft.“ Sie fordert die Jugendlichen auf, Zivilcourage zu zeigen, gegen Unrecht aufzustehen. Mitfühlend zu sein.

Dass die Geschichte ins Herz trifft, ist an diesem Dienstagvormittag nicht nur an der Stille im Raum zu merken. Und auch nicht nur an den vielen Fragen, die noch gestellt werden. Dass Rachel Drors Erzählung etwas auslöst, merkt man auch an der Reaktion eines 15-jährigen muslimischen Schülers. In einer kurzen Veranstaltungspause setzt er sich still neben die Seniorin, wechselt ein paar Worte mit ihr und setzt sich unauffällig wieder an seinen Platz. Später sagt er, er habe sich nur überzeugen wollen, dass es ihr gut geht.