Zenmeister und Youtuber in Japan Von Tübingen nach Osaka: der Zenpriester mit den blauen Augen

Muho auf Youtube mit seiner charakteristischen Pudelmütze Foto: Youtube

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens landet Olaf Nölke in Japan. Heute ist der einstige Tübinger ein prominenter Zenmeister, der anderen Suchenden auf Youtube Ratschläge gibt.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Die Kirschblüte im Burgpark von Osaka liegt in den letzten Zügen. Der Hauptturm ist umzingelt von Touristen, die ein letztes Bild in rosafarbener Rahmung erhaschen wollen. Inmitten des Gewimmels ragt ein großer Mann heraus, der gegen den Strom läuft. „Hier ist es“, sagt Olaf Nölke, 56, und zeigt am Parkrand auf ein Stück Erde zwischen zwei Bäumen. „Hier habe ich gewohnt.“

 

16 Jahre Klosterleben liegen hinter sich, als er im Jahr 2001 sein Zelt bei den Obdachlosen von Osaka aufschlägt. Er will noch ein bisschen bleiben, nicht gleich in die Heimat zurückkehren. Dabei hat er eigentlich gefunden, wonach er in Japan gesucht hat: Die Antwort nämlich auf die Frage, warum wir leben, was die ganze Quälerei überhaupt soll. Zu diesem Zeitpunkt weiß Olaf Nölke noch nicht, dass die Tage im Burgpark von Osaka sein Schicksal besiegeln werden – und er für immer bleiben wird.

Er dachte oft daran, sich das Leben zu nehmen

Früher als andere hat Olaf Nölke die Frage nach dem Sinn des Lebens umgetrieben. Er ist sieben Jahre alt, als seine Mutter an Krebs stirbt. Wozu lernen, wozu arbeiten oder eine Familie gründen? Ist im Angesicht des Todes nicht eh alles sinnlos? Weder der Vater noch die Lehrer haben befriedigende Antworten. „Ich dachte oft daran, mir das Leben zu nehmen“, erzählt Nölke.

Mit 16 kommt er auf ein Internat. Der Jugendleiter Hubert Kuhn, der Olafs innere Unruhe erkennt, drängt ihn, seinen Zen-Meditationskurs zu besuchen. Zen ist, stark verkürzt, eine buddhistische Schule, die lehrt, durch Meditation und direkte Erfahrung jenseits von Worten zu Erkenntnis und Erleuchtung zu gelangen. Der Teenager will davon allerdings nichts wissen. Doch der Pädagoge lässt nicht locker. „Okay, aber nur ein einziges Mal.“ Daraus werden drei Jahre, in denen er keine Sitzung auslässt.

Jeden Sonntag meditiert Muho mit seinen Schülerinnen und Schülern im Burgpark von Osaka. Foto: Youtube

„Es fühlte sich sofort gut an“, erinnert sich Olaf Nölke. „Früher war ich ja nur im Kopf zuhause. Aber durch das aufrechte Sitzen spürte ich auf einmal, dass ich in einem Körper wohne, der vom Geist nicht zu trennen ist.“ Er leiht sich Bücher über den Zen-Buddhismus, liest da von Buddha und erkennt sich wieder. „Buddha sagte: Leben ist Leiden. Und ich dachte: Endlich mal einer, der das anspricht.“

Buddha sagte auch, dass das Leiden beendet werden kann. Olaf Nölke würde am liebsten gleich nach dem Abitur nach Japan gehen, um herauszufinden wie. Mönch will er werden. Und Japan gilt als das Land, wo die Zen-Lehre in ihrer reinsten Form gelehrt und gelebt wird. Die hüftlangen Haare sind schon wegrasiert. Doch alle raten ihm ab. „Studier erst mal was. Falls das mit dem Zen nicht klappt“, sagt auch sein Meditationslehrer. Dann eben Japanologie und Philosophie an der Uni in Berlin, zur Vorbereitung.

Während zweier Auslandssemester in Kyoto sucht Olaf Nölke nach einem geeigneten Ort für seine Pläne. In den japanischen Bergen, auf einem schwer zugänglichen Hochplateau, umgeben von dichten Kiefernwäldern, findet er ihn: das Kloster Antaiji, wo die Zenschule Soto praktiziert wird. Im Jahr 1995, nach Abschluss seines Masters, klopft er erneut ans Klostertor und bittet um Aufnahme in den Orden.

Bei seiner Ordinierung erhält er den Namen Muho. Das heißt so viel wie „keine Richtung“ oder auch „offen in jede Richtung“. Anfangs tut er sich allerdings schwer, seinem Namen gerecht zu werden. Er wehrt sich gegen den anstrengenden Arbeitsalltag im Kloster, das sich selbst versorgt. Muho muss Ziegen melken, auf dem Feld arbeiten, kochen, putzen. Er beschwert sich beim Abt: „Sind wir nicht hier, um Zazen zu üben?“ So nennt man die Sitzmeditation im Zen. Der Abt: „Wenn du sitzt, denk’ ans Sitzen. Wenn du kochst, denk’ ans Kochen. Wer behauptet, das eine sei wichtiger als das andere?“ Muho: „Ich. Mir ist Zazen wichtiger.“ Der Abt: „Du zählst nicht.“ Es dauerte eine Weile, bis Muho begreift, dass im Kloster alle Stunden des Tages, auch die Tätigkeiten für die Gemeinschaft, zum Weg des Zen gehören.

Durch das viele Sitzen verliert er das Gefühl im linken Fuß

Zehn Jahre verbringt er in Antaiji – die Mindestdauer für Novizen. Zeitweise hat er Symptome einer Depression. Durch die langen Sitzmeditationen verliert er teilweise das Gefühl im linken Fuß. Als Muho dem Klosterältesten gesteht, er habe das Gefühl, auf der Stelle zu treten, sagt dieser zu ihm: „Was du brauchst, ist ein noch strengeres Kloster.“ Wenige Tage später kniet Muho vor dem Tor des berüchtigten Rinzai Klosters Saifukuji in Kyoto. Zur Begrüßung packt ihn ein Mönch am Kragen und wirft ihn die Steintreppe hinunter.

In der Zenschule Rinzai wird Gewalt als Mittel verstanden, um Mönchen über die Schwelle zur Erleuchtung zu verhelfen. Muho kniet zwei volle Tage mit gesenktem Kopf in der Eingangshalle und landet immer wieder am Treppenaufgang, bevor er aufgenommen wird. Als Neuling geht er durch die Hölle. Beim Sitzen in Eiseskälte erhält er bei kleinsten Bewegungen brutale Schläge mit einem Holzstock auf die Schultern, jeweils vier, für die er sich bedanken muss. Er kriegt nur die Essensreste der anderen, auch was auf den Boden gefallen ist. Sein Magen rebelliert. Er muss die Toiletten putzen und um Erlaubnis bitten, wenn er selbst aufs Klo muss. „Ich machte mir einige Male in die Hose.“ Für jeden Fehler gibt es Prügel. Beim Aufreihen der Sandalen der Mönche kommt es auf Millimeter an. Sein Ausbilder hatte ihn vorgewarnt: „Im Soto kriegst du Knieschmerzen. Im Rinzai musst du sterben.“

Er stirbt nicht. Aber er erreicht einen Zustand, in dem er nur noch dankbar ist, am Leben zu sein. In dieser Zeit sei er „durchs Nadelöhr“ gestiegen, wie Muho es oft beschreibt. Die Frage nach dem Warum ist weg. Und der Tod stellt keine Bedrohung mehr dar. „Ich sage nicht, dass es keinen anderen Weg zur Erlösung gibt“, sagt Muho heute. „Aber für mich war dieser genau der richtige. Eine glückliche Fügung – er hätte mich auch zerstören können.“

Nach dem Jahr in Saifukuji erwirbt er die Priesterlizenz und geht für weitere fünf Jahre zurück nach Antaiji, bevor er das Klosterleben hinter sich lässt und im Park von Osaka sein Zelt aufstellt. Für die Obdachlosen ist der neue Nachbar in Mönchskutte keine Sensation. In der Geschichte haben Mönche oft auf der Straße gelebt.

Abt und Familienvater

Jeden Morgen meditiert Muho zwei Stunden im Park unter freiem Himmel und hofft, dass sich Gleichgesinnte zu ihm gesellen. „Ich wollte ein Zen-Dojo einrichten, einen Übungsraum für Zazen, wie es ihn in Deutschland heute in allen Städten gibt – nicht aber in Japan.“ Er verteilt Flyer und richtet im Internetcafé eine Homepage ein. Immer mehr Menschen gesellen sich zu ihm. So lernt er auch Totomi kennen, die seine Frau wird. Dazu muss man wissen, dass buddhistischen Priestern in Japan erlaubt ist zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Die junge Liebe wird nach drei Monaten auf die Probe gestellt. Muho bekommt einen Anruf aus Antaiji: Der Abt sei tödlich verunglückt. Er, Muho, komme als einziger für die Nachfolge in Frage, wenigstens bis ein neuer Abt gefunden sei. Muho weiß, dass er die Herausforderung annehmen muss. „Das war ich Antaiji schuldig.“ Er hält um die Hand von Totomi an. Nach sechs Monaten im Park von Osaka kehrt er nach Anatiji zurück, nun als verheirateter Abt.

Ein Bild aus seiner Zeit im Kloster Antaiji Foto: Norbert Hübner

Aus dem Interimsposten werden 18 Jahre. Abt Muho macht zunehmend Schlagzeilen. In japanischen Medien nennen sie ihn den „Zenpriester mit den blauen Augen“. Bis heute ist er in Japan der erste und bisher einzige deutsche Abt eines buddhistischen Klosters. Auch Regisseure aus Deutschland drehen Filme über ihn, darunter die ARD-Dokumentation „Der Abt von Antaiji“, die seinen Alltag als spirituelles Oberhaupt wie auch als Familienvater in der Einöde der japanischen Berge zeigen.

Im Jahr 2020 kann er den Stab endlich weiterreichen: Eko Nakamura, eine Äbtin, übernimmt die Leitung von Antaiji. Wieder zieht Muho zurück nach Osaka, dieses Mal jedoch in eine kleine Stadtwohnung, mit Frau und drei Kindern. Die Zusammenkünfte im Park von Osaka nimmt er wieder auf: Jeden Sonntagmorgen versammeln sich er und seine Schüler unweit seines damaligen Zeltes und üben Zazen. Deutschland ist vorläufig keine Option mehr.

Aber er hat Wege gefunden, seine Zenerfahrung mit Deutschen zu teilen. Er schreibt Bücher, er ist aber auch fast täglich auf Youtube zu sehen, meist mit Pudelmütze, weil er seine Wohnung nicht beheizt. In seinen Clips spricht er über „Leben, Leiden, Erleuchtung und Tod“ – oder sitzt stundenlang reglos vor der Kamera. Rund 17 000 Personen folgen seinem Kanal.

Im Schlosspark von Osaka: Muho zeigt, wo er ein halbes Jahr lang im Zelt gelebt hat. Foto: Lachenmann

Beliebt sind seine zwölfminütigen Zen-Häppchen, in denen er irgendwo in der Wohnung die Kamera anknipst und Fragen seiner Follower beantwortet – Fragen zur Zen-Praxis, aber auch solche wie „Hast du keine Frauengeschichten?“ oder „Hältst du Maß beim Essen?“ oder „Wie gehe ich mit ekelhaften Nachbarn um?“ Leben könne er davon nicht, sagt er. Aber es mache ihm Riesenspaß, die Kommentarleisten zu lesen und Herzchen zu verteilen. „Das mögen meine Follower vielleicht nicht so gern hören“, bekennt er freimütig, „aber ich glaube, da ist eine narzisstische Seite in mir.“

Er lebt von Vorträgen, von Spenden und von seinen Büchern über Zen, die er auch auf Englisch und Japanisch verfasst. In Zenkreisen wird er vor allem für seine Übersetzungen der Weisheiten des japanischen Zenmeisters Sawaki Kōdō geschätzt. „So stoppele ich den Lebensunterhalt für meine Familie zusammen“, sagt er.

Und immer noch geht er auf Betteltour, ein Mal im Monat, wie das für Mönche üblich ist. Nach Kyoto oder nach Kobe, wo die Menschen großzügig geben. Dann schlüpft er wieder in sein Mönchsgewand und rezitiert in monotoner Stimme ein Sutra, das mit den Worten endet: „Gegangen, gegangen, hinübergegangen. Welch ein Erwachen.“

Neues Buch und Veranstaltungen in Deutschland

Vorträge
 Im Sommer reist Muho in die Heimat. Geplant sind Vorträge in Deutschland und der Schweiz. Nähere Informationen dazu findet man auf der Internetseite www.muhode.hatenablog.com.

Neuerscheinung
 Muho hat ein Dutzend Bücher auf Deutsch veröffentlicht. Sein neuestes Werk ist Anfang Mai im Verlag O.W. Barth erschienen (288 Seiten, 20 Euro) und hat den Titel „Alles was du denkst, sind nur Gedanken“.

Weitere Themen