Rund 68 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht Deutschland womöglich vor einer neuen Prozess-Welle gegen mutmaßliche NS-Verbrecher. Die Zentrale Stelle zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg will Vorermittlungen gegen 50 frühere Auschwitz-Wachmänner einzuleiten.

Nachrichtenzentrale: Tim Höhn (tim)

Ludwigsburg - Rund 68 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht Deutschland womöglich vor einer neuen Welle von Prozessen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher. Welche Brisanz in dem Thema steckt, verdeutlichen die Reaktionen auf die Ankündigung der Zentralen Stelle zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen, demnächst Vorermittlungen gegen 50 frühere Wachmänner des Vernichtungslagers Auschwitz einzuleiten.

 

„Wir sind hocherfreut, dass diese Fahndungen jetzt begonnen haben“, sagt Efraim Zuroff, der Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Israel. Er erwarte zwar nicht, dass alle Verdächtigen tatsächlich vor Gericht gestellt werden. „Aber wenn fünf bis zehn davon angeklagt werden, werde ich mich mitten in Berlin hinstellen und laut Halleluja schreien“, sagt Zuroff. Auch Christoph Heubner, der geschäftsführende Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees ehemaliger Häftlinge, begrüßt die Entwicklung. „Es ist spät, aber nicht zu spät“, sagt Heubner. Für die Überlebenden sei dies eine wichtige Nachricht.

Die Zentrale Stelle mit Sitz in Ludwigsburg hält Prozesse gegen die Verdächtigen für aussichtsreich. Es handelt sich um 50 Männer im Alter von rund 90 Jahren, die heute in Deutschland leben, während des Kriegs im KZ Auschwitz-Birkenau tätig waren und sich wegen Beihilfe zum Mord verantworten sollen. Prominente Namen sind nicht darunter, aber den Ermittlern sind die Personen schon lange bekannt. „Die KZ-Aufseher haben uns in der Vergangenheit nicht sonderlich interessiert“, sagt Kurt Schrimm, der Leiter der Zentralen Stelle. Was an der geltenden Rechtsauffassung gelegen habe, dass man Tätern konkrete Taten nachweisen müsse.

Der Fall Demjanjuk

Geändert hat sich diese Einschätzung erst im Verlauf des Verfahrens gegen John Demjanjuk. Das Münchner Landgericht verurteilte den ehemaligen KZ-Wachmann im Mai 2011 wegen Beihilfe zum Mord in 20 000 Fällen zu fünf Jahren Gefängnis, ohne ihm eine konkrete Einzeltat zur Last zu legen. Die Richter sahen Demjanjuk vielmehr als „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ der Nazis. Den Nazi-Jägern wiederum eröffnete das völlig neue Perspektiven. „Wir haben daraufhin die alten Akten nach ähnlichen Fällen überprüft“, sagt Schrimm. In drei Monaten werde man vermutlich die ersten Ermittlungsergebnisse an die Staatsanwaltschaften weiterleiten. Diese müssen dann entscheiden, ob die Vorwürfe für eine Anklage ausreichen. Anzunehmen ist, dass nicht alle potenziellen Angeklagten tatsächlich verhandlungsfähig sind. Verjährt sind die Taten indes nicht, denn Mord verjährt nie.

Erfahrungsgemäß werden auch die Staatsanwälte die Dokumente noch einmal sorgfältig analysieren. Wie lange dies dauern kann, zeigt der Fall Johann Breyer. Die Zentrale Stelle hat ihre Erkenntnisse über den mutmaßlichen KZ-Wachmann, der in den USA wohnt, bereits im August 2012 an die zuständige Staatsanwaltschaft in Weiden in der Oberpfalz übermittelt. Seither wird ermittelt, aber ob und wann Anklage erhoben wird, ist völlig unklar. „In Weiden wartet man offenbar auf die biologische Lösung“, kritisiert der Rechtsanwalt Thomas Walther, der mehrere Holocaust-Überlebende in Europa juristisch vertritt. Auch in Stuttgart wird seit November gegen einen Auschwitz-Wächter ermittelt, ebenfalls auf Basis von Recherchen in Ludwigsburg.

Walther hat einst selbst für die Zentrale Stelle gearbeitet, hält sich mit Kritik an der Behörde aber nicht zurück. Die neuen Vorermittlungen seien ein „richtiger Schritt in die richtige Richtung“, hätten aber früher beginnen können, sagt er. Seit die Zentrale Stelle ihren Bericht über Demjanjuk fertig gestellt habe, seien weitere fünf Jahre verstrichen, was Holocaust-Überlebenden schwer zu vermitteln sei. Er habe gerade einer Mandantin in Ungarn mitgeteilt, dass in Deutschland womöglich neue Verfahren in Gang kommen. Die Frau, 87 Jahre alt und ehemals Gefangene in Auschwitz, habe sofort reagiert. „Sie hat gesagt, dass sie diesen Menschen, die sie so gequält haben, in den Prozessen unbedingt noch einmal in die Augen schauen will. Für sie und viele andere wäre das eine wichtige Genugtuung.“