Zentrum für Psychiatrie Winnenden Gefühlsblindheit – Stress fürs Leben und die Partnerschaft

Gefühlsblindheit kann sich massiv auf die Beziehung auswirken und diese mitunter zerstören. Foto: dpa/Patrick Pleul

Einige Menschen können Gefühle nicht erkennen oder benennen. Joachim Haas, Chefarzt der Psychiatrie Winnenden, ist Experte bei dem Thema Alexithymie. Diese Problematik kann Ursache für Volkskrankheiten und psychosomatische Störungen sein.

Rems-Murr: Simone Käser (sk)

Liebevoll hält die Mama ihr Kind in den Armen. Egal, ob die beiden kuscheln, der Säugling trinkt, in den Schlaf gewiegt oder beruhigt wird – immer ist das Gesicht der Mama dabei für das Baby präsent und elementar wichtig. „Das Gesicht der Mutter ist das zentrale Lernmodell für das Kind. Anhand der Emotionen der Mama schließt das Baby auf eigene Emotionen. Schaut die Mama entspannt, gilt auch für das Kind Entwarnung, blickt die Mutter aber traurig oder ängstlich, ist auch das Baby in Alarmbereitschaft.“

 

In der Kindheit lernt das Kind Emotionen kennen – der Grundstein wird gelegt

Mit diesem Beispiel macht Joachim Haas, Chefarzt an der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Schloss Winnenden (ZfP), deutlich, wie wichtig es ist, in der Kindheit Emotionen zu erlernen. „Wenn die Mutter dagegen keine Affekte zeigen kann, und das Kind die ganze Zeit auf ein neutrales Gesicht blickt, hat das weitreichende Folgen für die Emotionen des Kindes, und es kann sein, dass es auf der unteren Stufe der emotionalen Entwicklung stehen bleibt und eine Gefühlsblindheit entwickelt“, sagt Haas, der sich auf eben diese Gefühlsblindheit – Fachbegriff Alexithymie – spezialisiert und dazu geforscht hat. „Wörtlich bedeutet das, dass eine Person Emotionen nicht lesen kann. Dabei gibt es Überlappungen mit dem Autismus.“

Fast ein Drittel der Menschen entwickelt im Leben psychische Störungen

Unter dem Titel „Alexithymie – Wenn die Worte für Gefühle fehlen“ widmet Haas am kommenden Donnerstag einen ganzen Abend dem Thema Gefühlsblindheit – im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Psychiatrie Talk“, die bisher rein digital stattfand und fortan auch in Präsenz niederschwellig über psychische Gesundheit informieren soll. In Anbetracht der Tatsache, dass fast ein Drittel der Menschen im Laufe ihres Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung leidet, möchte das ZfP mit der Reihe helfen, psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und Behandlungsmöglichkeiten zu zentralen Themen aufzuzeigen. Haas geht unter anderem darauf ein, wie man Alexithymie erkennen beziehungsweise sich eventuell sogar selbst darauf testen kann. Lässt sich die Ausprägung von Alexithymie womöglich beeinflussen? Im Anschluss an den 45-minütigen Vortrag ist Zeit für Fragen.

Doch was genau hat es denn nun mit der Gefühlsblindheit auf sich und welche Folgen kann ein solches emotionales Defizit haben? Es handelt sich laut dem Chefarzt um die Schwierigkeit oder gar die Unfähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen und mit Worten beschreiben zu können – eine Problematik, die Stress im Leben bedeuten kann. So kann sich die Gefühlsblindheit gravierend auf die Partnerschaft auswirken. Die Neigung zu sehr sachlichen Schilderungen, ein eingeschränktes Fantasieerleben und Probleme dabei, Zusammenhänge zwischen Körpersymptomen (wie Herzrasen) und Gefühlen (wie Angst) herzustellen, können bei alexithymen Personen auftreten. „Es ist ein Denkstil und ein Lebensmodell mit einer mechanischen Auffassungsweise. Über Gefühle wird dabei in etwa so geredet, wie wenn der nächste TÜV-Termin fürs Auto fällig ist“, erklärt Joachim Haas und gibt auch gleich Beispiele, für welche Erkrankungen die Gefühlsblindheit eine Rolle spielen kann: Suchtverhalten, Essstörungen, Depression, Angststörung, Autismus, Tinnitus, Bluthochdruck könnten durch Alexithymie begünstigt werden. „Oft sind es psychosomatische Schmerzstörungen, also Symptome ohne körperliche Erklärung.“ Nur wenn der Leidensdruck dadurch hoch sei oder der Partner nicht mehr mit dem Fehlen der Emotionen klarkomme, würden alexithyme Personen Hilfe suchen. „Ansonsten läuft das relativ stabil und stört die Betroffenen nicht. Wollen sie etwas ändern, müssen sie das mithilfe eines Therapeuten versuchen“, sagt Haas.

Wie fühlst du dich? Eigentlich eine einfache Frage

Wie fühlst du dich? Eigentlich eine einfache Frage. Die Antwort darauf fällt Menschen, die ihre Gefühle nicht wahrnehmen können, nicht leicht. Etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung zeigt Anzeichen von Alexithymie, die verschiedene psychische und physische Erkrankungen befördern kann. „Idealerweise schildert ein Vierjähriger, dass er Bauchweh hat. Das Bauchweh steht für Ängste und Sorgen. Ein Sechsjähriger kann dann schon sagen, dass er traurig ist, statt von Bauchweh zu sprechen. Gelingt die Entwicklung hin zur Verknüpfung von Symptomen mit Gefühlen nicht, wird es schwierig“, erklärt der Chefarzt am ZfP die oft unerkannte Schwierigkeit bei Alexithymie und deren Folgen. „Klassisch bei solchen Patienten, die alles neutral benennen und keine Gefühlswörter nutzen, ist auch ein Kloßgefühl im Hals, für das keine körperliche Ursache gefunden wird, denn bei einer unreifen Affektverarbeitung ist man prädestiniert für bestimmte Krankheiten.“

Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nicht nötig. Die Veranstaltung ist am 16. Mai, 18 Uhr, im ZfP-Festsaal. Einlass ab 17.30 Uhr. Infos: https://www.zfp-winnenden.de/veranstaltungen

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