Die Protestwelle in der Ukraine spiegelt die historische Zersplitterung des Landes wider. Auf dem Maidan spricht man nur ukrainisch – schon ein paar Straßen weiter ist auch russisch zu hören.

Kiew - Metrostation „Maidan Nezaleschnosti“ – Platz der Unabhängigkeit – kurz vor Mitternacht: Wo vor kurzem noch ein Barde Liebeslieder vorgetragen hat, sind drei Einheiten der „Maidan-Selbstverteidigung“ aufmarschiert. Männer zwischen 18 und 60 in Tarnanzügen und abgetragenen Windjacken aus der Kleidersammelstelle. Die meisten tragen alte sowjetische Armeehelme, andere Fellmützen. In der Hand halten sie selbstgemachte Knüppel, Eispickel, Baseballschläger. Viele Gesichter sind vermummt. Fotografieren ist dennoch unerwünscht.

 

„Meine Hundertschaft will das nicht“, sagt der Bestgekleidete unter ihnen. Er verteilt jedem eine Packung Zigaretten, dann erhält die Gruppe Anweisungen. „Wir bewachen die U-Bahn, denn von hier unten können sie uns am Leichtesten angreifen“, erklärt er. Die Gegner sind die gefürchteten „Berkut“-Sondereinheiten und weitere Truppen der Staatsmacht.

Von der EU wird wenig erwartet

Die Stimmung ist gedrückt. „Wenn uns Russland morgen offen angreift, wird Europa keinen einzigen Soldaten zu Hilfe schicken“, sagt Wiktor, der wenige Hundert Meter weiter den inneren Barrikadenring des Maidan bewacht. Die EU will er dennoch nicht abschreiben. „Die EU soll uns ihre Berater schicken, uns zeigen, wie man die Korruption bekämpfen kann, wie wir Parlamentarier kriegen, die das Volk vertreten und ihm Rechenschaft schuldig sind“, sagt der muskulöse Mann. „Wir wollen einfach Gerechtigkeit!“, sagt auch Sema. Weil es daran fehlt, ist er auf dem Maidan, wo sich vor allem unter jüngeren Demonstranten die Geschichten von Beamtenwillkür, wiederholen, von Geschäftsübernahmen, Kartellen und seltsam begründeten Gerichtsurteilen, die jenes gegen Julia Timoschenko in den Schatten stellen könnten.

Zwar stehen auf dem Platz Protestzelte aus dem gesamten Land, aus Cherson, Odessa und Donezk, doch die meisten der Protestierenden stammen aus Kiew, der Zentral- oder der Westukraine. Ukrainisch ist hier die meistgehörte Sprache, während die Kiewer Straßenzüge jenseits der Barrikaden immer noch klar zweisprachig sind – Russisch ist hier genauso üblich.

Die sowjetische Mentalität lebt auf

Im ostukrainischen Donezk gelte das Sprichwort „Wenn dich etwas stört, sitze still und warte, bis es sich ändert“, erzählt ein Protestierender. Der Homo sovieticus, die Mentalität des Sowjetmenschen, die Angst vor dem KGB, den Lagern, dem offenen Wort sitzt vor allem bei den älteren Demonstranten tief. Bloß nicht auffallen, zumindest so tun, als sei man mit dem Protestmanagement der drei Oppositionsführer zufrieden ist das Motto.   Das Erbe der Sowjetunion spaltet die Ukraine wohl mehr, als die Tatsache, dass der Ostteil des Landes kulturell und sprachlich russisch geprägt ist und der Westteil ukrainisch.

Auch die Aufstandskarten der Opposition spiegeln diese alte Teilung wieder. Neun von 25 Verwaltungseinheiten haben sich inzwischen mit dem Maidan solidarisiert und ihre Gouverneure der Zentralmacht verjagt. Sie befinden sich alle in der Westukraine. Auch deshalb geht in Kiew das Gespenst der Teilung des Landes um.

  Eine Sonderstellung nimmt die östliche Industriestadt Donetzk ein, die Heimat Janukowitschs. Fast die gesamte Regierung stammt aus Donezk, auch die wichtigsten Oligarchen. Der reichste Mann des Landes, Rinat Achmetow hat hier sein Vermögen gemacht. Heute wird jede seiner Äußerungen zum Konflikt auf die Goldwaage gelegt. Doch Achmetow schwankt: Mal ruft er an den Verhandlungstisch, mal stellt er sich hinter den Präsidenten.