Hilfe, Stuttgart hat ein Kunstwerk geschrumpft! Die Kulturhauptstadt hat sich damit kräftig blamiert, findet Lokalchef Jan Sellner.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Lesen Sie besser nicht weiter! Das ist mindestens halbernst gemeint. Denn wenn Sie das lesen, könnte es sein, dass Sie an diesem herrlichen Frühlingswochenende die Stirn in Runzeln legen, wenn auch nur für einige Augenblicke, und Ihr Bild von der blühenden Kulturhauptstadt Stuttgart Risse bekommt.

 

Doch vermutlich kommt diese Warnung zu spät, und Sie haben es in unserer Zeitung schon gelesen oder davon im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört: vom neuesten Streich des Stuttgarter Garten- und Friedhofsamtes, das auf dem Pragsattel ein in 25 Jahren (!) buchstäblich herangewachsenes Kunstwerk des niederländischen Künstlers Herman de Vries kurzerhand durch den Häcksler jagte. Mit dem irren Ergebnis, dass der kleine Fleck Erde, auf dem sich – so die künstlerische Idee – Natur inmitten der Großstadt ungehindert entfalten sollte, aktuell der einzige unverbaute Ort ist, auf dem nichts grünt. Eine Braunfläche – trist, kahl, sinnentstellt, entweiht.

Stuttgart macht sich zum Gespött

Man hat von solchen Let’s-putz-Aktionen auf Kosten der Kunst immer wieder gehört. Besonders eklatant der Fall aus Düsseldorf, wo ein Hausmeister die von Joseph Beuys hinterlassene „Fettecke“ aus der Kunstakademie akkurat entfernte. Ähnliche Reinigungsunfälle sind aus Mannheim und Dortmund bekannt. Nun hat es die Kulturhauptstadt Stuttgart erwischt – ausgerechnet! Sie hat den Verlust des von Herman de Vries geschaffenen Sanctuariums zu beklagen und macht sich damit bundesweit zum Gespött. Christiane Lange, die Direktorin der Staatsgalerie, stellt mit Bedauern fest: „Das ist leider ein weiteres Kapitel der Rubrik ‚Ist das Kunst, oder kann das weg?’.“ Eigentlich ist es noch viel schlimmer. Denn das Garten- und Friedhofsamt musste wissen: Das ist Kunst. Und trotzdem kam sie weg.

Da helfen auch keine Ausreden – wie der Hinweis auf eine drohende „Verwaldung“. Seit der Internationalen Gartenbau-Ausstellung von 1993, anlässlich derer das Kunstwerk entstand, war die von einem hohen Stahlzaun umgebene kleine Wildnis auf dem Pragsattel vor dem Zugriff der Gärtner geschützt. Sozusagen sakrosankt: „Wie der Lettner, der in vielen Kirchen den Altarbereich vor der Berührung durch die Gläubigen bewahrt, so beschirmt das Gitter die kostbare Natur“, heißt es im Ausstellungskatalog von damals. „Man darf sie betrachten, aber nicht berühren.“ Dem Künstler ging es darum, Natur in einer von Verkehr beherrschten Umgebung „sich manifestieren zu lassen“. So funktioniert Kunst und vielleicht auch das Leben. Aber nicht unbedingt eine städtische Behörde.

Überfällige Entschuldigung

Jeder blamiert sich, so gut er kann. Stuttgart ist das in diesem Fall erschreckend gut gelungen. Deshalb war es überfällig, dass Oberbürgermeister Fritz Kuhn sich in dieser Woche namens der Stadt für den Kahlschlag entschuldigte. Damit ist jedoch die von Christiane Lange aufgeworfene Frage noch nicht beantwortet: „Wie kommt Kunst im öffentlichen Raum stärker ins Bewusstsein der Menschen?“ Denn es sollte einem ja zu denken geben, dass das Verschwinden des Kunstwerks einen ganzen Monat lang unbemerkt geblieben ist, obwohl täglich Tausende Menschen daran vorbeifahren. Daran zeigt sich: Die Kultur in der Stadt muss stetig gepflegt werden. Allerdings nicht auf dem Wege des Zurückschneidens.

jan.sellner@stzn.de