Tobias Dischinger und Manuel Kristen aus Weinstadt beobachten, wie ein 84-Jähriger in Lebensgefahr gerät – und helfen ihm. Für ihre Zivilcourage werden sie später von der Initiative Sicherer Landkreis Rems-Murr ausgezeichnet. Was war passiert?
Als Tobias Dischinger am 16. November 2023 mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause fährt, stürmt es und regnet in Strömen. Draußen ist es schon dunkel, es ist Viertel nach sieben. Die Straße ist nicht besonders komfortabel; es ist mehr ein Feldweg, der am sogenannten „Schüttelgraben“ entlang der B 14 aus Waiblingen in Richtung Rommelshausen führt. Seit er seine Ausbildung zum Handelsfachwirt im Waiblinger Gartencenter Dehner begonnen hat, fährt der Weinstädter diese Strecke fast jeden Tag.
Doch dieses Mal ist etwas anders. Auf Höhe des Restaurants Divino, das etwas abgelegen an besagtem Feldweg liegt, sieht der 23-Jährige rote Rücklichter. Nur scheinen diese nicht vom Weg aus, sondern aus dem Graben – zu dem es etwa drei Meter steil in die Tiefe geht. „Ich war perplex.“ Er ahnt noch nicht, dass er jemandem in den nächsten Stunden mit ziemlicher Sicherheit das Leben retten wird – und ihn die Initiative Sicherer Landkreis Rems-Murr dafür ein knappes Jahr später für seine Zivilcourage ehren würde.
84-Jähriger rutscht in den Schüttelgraben
Aber nicht nur Tobias Dischinger, auch der Weinstädter Unfallchirurg Manuel Kristen sowie seine Kollegen Hendrik Pröbsting und Patrick Wohlfahrt vom Rettungsdienst bekamen die Auszeichnung. Sie waren privat vor Ort, wollten in dem Restaurant auf eine gelungene Wiederbelebung anstoßen.
Kristen entdeckt den in Not geratenen 84-Jährigen als ersten – noch bevor die Situation brenzlig wird. „Als ich an der Pizzeria angekommen bin, habe ich einen Mann gesehen, der sich verwirrt umschaut hat“, erzählt er. Dieser sei in seinen SUV gestiegen und habe begonnen, auf dem Feldweg zu wenden. „Dann fährt er direkt in den Graben – im Schnecken-Zeitlupentempo“, wie der Arzt es formuliert. „Er dachte wohl, dass dort unten der Weg ist.“
Kristen steigt aus seinem Wagen um zu sehen, was passiert ist. „Er ist im 90-Grad-Winkel ins Wasser eingetaucht.“ Eigentlich sei der Bach nicht besonders tief, aber wegen des Regens in den vergangenen Tagen sei der Pegel ungewöhnlich hoch. Die Wassermassen türmen sich hinter dem Auto so schnell auf, dass sich das Fahrzeug dreht und den Bach hinunter schwimmt. „Da war mir schon klar, dass er alleine nicht wieder herauskommt“, erzählt Kristen. Er setzt den Notruf ab, mit dem Hinweis, alle Rettungsinstanzen zu schicken – auch die Feuerwehr.
Etwa 150 Meter durch eine Röhre geschwemmt
Währenddessen treibt das Auto auf eine Röhre zu. 150 Meter ist sie etwa lang, sie leitet den Bach unter der Bahnlinie und einer Straße hindurch. „Wir dachten, das Auto bleibt davor stecken“, berichtet Dischinger. „Aber es ist in das Rohr hineingerutscht, die Lichter sind einfach verschwunden.“ Einige Sekunden lang schweigen die beiden Helfer, im Unglauben darüber, was gerade passiert ist. Dann rennt der 23-Jährige, mental wie in einem Tunnel, in die Pizzeria und ruft: „Wo kommt die Röhre wieder raus?“ Bestimmt 150 Meter weiter in Richtung Wohngebiet, erfährt er vom Koch.
„Ich bin mit dem Fahrrad hingefahren, habe ihn aber erst mal nicht gesehen“, fährt Dischinger in seiner Erzählung fort. Erst einige Meter weiter, an der nächsten Brücke, sieht er das Auto. Es hatte sich dort in einer Böschung verkeilt – an einer Stelle, die vom Weg aus kaum zu sehen ist.
Rettungskräfte bringen den unterkühlten Mann in Sicherheit
Wenig später kommt auch Manuel Kristen mit seinen Kollegen an der Brücke an. Er informiert die Rettungskräfte über die neue Position. In der Zwischenzeit suchen die anderen drei Helfer Wege, um den Wagen aus der Strömung zu retten. „Wir wollten schon ein Seil holen und den Graben hinabsteigen“, berichtet Dischinger. Aber der Notrufhelfer habe eindringlich klargemacht: „Bleiben Sie ruhig, bringen Sie sich selbst nicht in Gefahr!“
Schon kurze Zeit später treffen die Rettungskräfte ein. Dischinger kommt die Zeit bis dahin endlos vor. „Man fühlt sich unglaublich hilflos“, sagt er. „Ich dachte die ganze Zeit: entweder sie holen ihn jetzt raus oder das Auto kippt um.“ Die Feuerwehr befreit den verwirrten Mann aus dem Wagen, die Rettungssanitäter bringen ihn in ein Krankenhaus. Eine Möglichkeit, mit dem Geretteten zu sprechen, bekommen die Helfer nicht. So erzählen sie es. In der Meldung der Initiative Sicherer Landkreis steht später: „Der Fahrer war zwar leicht unterkühlt, blieb aber dank der aufmerksamen Zeugen unverletzt.“
Eine überraschende Auszeichnung
Die Ehrung habe sie überrascht, berichten die beiden Weinstädter. Manuel Kristen freut sich über die besondere Form der Wertschätzung. „Wir machen unseren Job ja, weil wir helfen wollen“, sagt der Notarzt. „Aber es sind diese Momente, die einem vor Augen halten, was für einen Unterschied man doch machen kann.“ Auch für Dischinger ist die Auszeichnung eine schöne Anerkennung – auch wenn Zivilcourage für ihn selbstverständlich sei. Was er aber gelernt habe: wie wenig es brauche, um jemandem wirklich zu helfen. „Wenn man auch nur den Notruf absetzt, hat man schon so viel getan.“
Initiative Sicherer Landkreis Rems-Murr
Der Verein
Die Initiative Sicherer Landkreis ist ein Verein, der sich seit 1996 die Kriminalprävention zum Ziel gesetzt hat. Seit der Gründung ehren die Mitglieder des Vereins öffentlich couragierte Bürger, die Menschen in lebensgefährlichen Situationen helfen oder zur Aufklärung von Straftaten beitragen.
Ehrungen 2024
In diesem Jahr wurden insgesamt neun Männer ausgezeichnet, die in vier unterschiedlichen Fällen Zivilcourage zeigten. Neben den genannten vier Männern wurden Jean-Michael Pang aus Kernen, Rinor Fetahaj, Thomas Philipp und Markus Grassl aus Urbach sowie Wolfgang Ströble aus Murrhard geehrt. Die Ehrungen erhielten die Bürger für die Vereitelung eines Suizidversuchs, für die Aufklärung von Sachbeschädigung sowie für die Rettung einer Rentnerin aus einem brennenden Haus.