Der Gerichtspräsident zeigt erfolglos einen Rechtsanwalt an, ein Richter attackiert die eigene Kammervorsitzende – ein endloser Zivilprozess am Landgericht Stuttgart gibt irritierende Einblicke ins Innenleben der Justiz.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart -

 

Auf die zügige Erledigung von Zivilverfahren ist man beim Landgericht Stuttgart besonders stolz. Die Zahl der Fälle sei 2013 zwar stark gestiegen, hieß es unlängst bei der Präsentation der Jahresbilanz. Doch im Durchschnitt würden sie binnen fünfeinhalb Monaten abgeschlossen – rascher als in Land und Bund.

Keine Rede war bei dem Pressetermin mit der Präsidentin Cornelia Horz von einem Verfahren, das so gar nicht zu der schönen Statistik passt: Es ist ein Zivilprozess, der bereits seit sieben Jahren läuft. Das Aktenzeichen stammt aus dem Jahr 2007, seither ist man kaum vorangekommen, ein Urteil ist nicht in Sicht. Ärger bereitet der Fall dafür umso mehr: zunächst mit dem Kläger und seinem Anwalt, inzwischen aber auch justizintern, für die Kammer, die Gerichtsspitze und sogar den Präsidenten des Oberlandesgerichts. Weil einiges davon nach draußen sickert, erlaubt das völlig verfahrene Verfahren seltene Einblicke in die Rechtspflege. Auch die gerne als „Halbgötter in Schwarz“ titulierten Richter, zeigt das Exempel, sind nur Menschen. Auch sie machen Fehler, ärgern sich über Kritik und tragen untereinander Konflikte aus, sachliche und persönliche.

Gestritten wird um zehn Millionen Euro

Die höchst ungewöhnliche Dauer des Verfahrens hat mehrere Gründe – vorneweg die Komplexität der Materie. Kläger ist eine Schweizer Firma, die Geschäfte mit abgetretenen Ansprüchen macht. Wegen der angeblich betrügerischen Liquidation einer eidgenössischen Aktiengesellschaft in den neunziger Jahren fordert sie zehn Millionen Euro Schadenersatz, dazu die Herausgabe eines wertvollen Oldtimers. Beklagte sind ein Geschäftsmann aus Freiberg am Neckar, dem der Kläger vorwirft, sich bei der Insolvenz zu Lasten der Anleger bereichert zu haben, daneben – unter anderem – Vorstände der Kreissparkasse Ludwigsburg, der Ludwigsburger Landrat, Rechtsanwälte aus Deutschland, der Schweiz und Österreich und inzwischen sogar das Land.

An der langen Dauer, hört man aus ihren Reihen, sei der Kläger zu einem guten Teil selbst schuld. Immer wieder habe er den Kreis der Beklagten erweitert, was prompt zu Verzögerungen führte. Genauso regelmäßig stellt er Befangenheitsanträge gegen beteiligte Richter – gerne kurz vor Verhandlungsterminen, die daraufhin platzen. Beobachter vermuten dahinter den Versuch, sich ihm genehme Richter auszusuchen. Gegenüber dem Gericht treten der Kläger und sein Anwalt fordernd, zuweilen aggressiv auf. Auch über die Öffentlichkeit versuchen sie Druck aufzubauen.

Mann der Richterin als Anwalt des Beklagten

Aber das Gericht bietet auch selbst Angriffsflächen. Es begann schon damit, dass in der Kammer anfangs eine Richterin mitwirkte, deren Ehemann als Rechtsanwalt einen der Beklagten vertritt – was natürlich unzulässig ist. Erst, nachdem sie mehrfach tätig geworden war, meldete die Richterin den Konflikt und wurde ausgewechselt. Der Kläger erfuhr das eher zufällig und fühlte sich hinters Licht geführt. Seither begegnet er dem Gericht mit einem gerüttelten Maß an Misstrauen. Sein Anwalt witterte ein „planvolles Zusammenwirken” der Kammermitglieder, es gehe um Rechtsbeugung, Betrug und Strafvereitelung.

Diese Vorwürfe wiederum riefen den damaligen Präsidenten des Landgerichts, Franz Steinle, auf den Plan. Er beschwerte sich bei der Anwaltskammer und erstattete Anzeige gegen den Anwalt (die StZ berichtete). Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft beantragte sogar einen Strafbefehl wegen Beleidigung, aber das blieb Steinles einziger Erfolg. Amts- und Landgericht lehnten den Erlass der Strafe von 15 Tagessätzen ab: die Äußerungen, so ihr Tenor, seien zwar kritikwürdig, aber noch zulässig. Auch die Anwaltskammer sah keinen Grund, gegen ihr Mitglied vorzugehen. Für Steinle, inzwischen zum Chef des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart aufgestiegen, war das ziemlich blamabel. Er sei nur seiner „Fürsorgepflicht” für die Kollegen nachgekommen, ließ er mitteilen. Rechtsbeugung – etwas Schlimmeres kann man Richtern schließlich kaum vorwerfen.

Zwanzig Seiten Kritik, aktenkundig

Heute erscheint es noch erstaunlicher, dass der Präsident sich mit dem ungewöhnlichen Vorgehen derart exponierte. Schon bevor er gegen den Anwalt zu Felde zog, wusste er von Vorwürfen gegen die Vorsitzende Richterin – aus dem eigenen Haus, von einem anderen Mitglied eben jener Zivilkammer. Schriftlich und mündlich hatte der Richter den Gerichtschef mehrfach darüber informiert, was beim Umgang mit dem vertrackten Fall so alles schief laufe. Seine Kritik, stark verkürzt: die Vorsitzende bringe das Verfahren – aus Unwillen oder Unvermögen – einfach nicht voran, immer wieder gebe es Verstöße und Versäumnisse zulasten des Klägers. Steinle bekümmerte offenbar vor allem das schlechte „Kammerklima“. Entschärft wurde es schließlich durch eine Umsetzung: Nach einer Elternpause landete der Richter - ein promovierter jüngerer Jurist, der einige Jahre im Bundesjustizministerium gearbeitet hatte – gegen seinen Willen bei einer anderen Kammer. Inzwischen ist er ans OLG abgeordnet.

Von den internen Querelen hätten die Prozessparteien und damit die Öffentlichkeit wohl nie erfahren, wäre der rebellische Richter dort nicht erneut mit dem alten Fall befasst worden. Er sollte über eine Beschwerde zum Streitwert mit entscheiden, sah sich dazu aber nicht imstande – wegen seiner früheren Rolle in dem Verfahren. Das hätte sich wohl relativ kurz begründen lassen. Der Richter nutzte die Selbstablehnung freilich, um seine Kritik von einst auf gut zwanzig Seiten aktenkundig zu machen. Schwarz auf weiß ist nun dokumentiert, was aus seiner Sicht in der Kammer alles schief lief: wie die Vorsitzende jahrelang „prozessleitende Maßnahmen” unterlassen, wie sie einen wichtigen Vermerk „weggeworfen”, wie sie ein Kurzgutachten zum Streit um den Oldtimer, einen Mercedes Flügeltürer, ignoriert habe - und wie sie mehrfach angekündigt habe, den Fall „mit durchgedrücktem Kreuz durchzuentscheiden”, also die Klage abzuweisen. Zwei ausführliche Gespräche mit dem Landgerichtschef Steinle zu alldem, so der Richter, seien „letztlich fruchtlos” geblieben.

Ein Richter attackiert die Vorsitzende Richterin

Für den Kläger war die Selbstanzeige natürlich eine Steilvorlage. Damit schienen all jene Vorwürfe bestätigt, gegen die sich Steinle so vehement gewehrt hatte. Umgehend stellte er erneut einen Antrag, die Vorsitzende Richterin abzulehnen. In ihrer Stellungnahme weist diese die referierten Kritikpunkte des Ex-Kammerkollegen meist pauschal zurück: „Die Behauptung … trifft nicht zu”, heißt es mehrfach lapidar. Über den Antrag ist noch nicht entschieden. Die darin enthaltenen strafrechtlichen Vorwürfe, unter anderem gegen den OLG-Chef wegen falscher Verdächtigung, werden vom Landgericht jedenfalls nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Im Gespräch mit dem Richter, heißt es, habe Steinle seinerzeit „nichts erfahren, was Konsequenzen erfordert hätte”. Wie eine Vorsitzende Richterin ihre Verfahren führe, unterliege ohnehin der richterlichen Unabhängigkeit.

Dem Antrag des Richters, nicht erneut mit seinem alten Fall befasst zu werden, wurde inzwischen stattgegeben. Was ihn zu seiner Kollegenschelte bewogen hat, darüber gehen die Meinungen in der Justiz auseinander. Da habe einer persönliche Rechnungen beglichen, sagen die einen; andere bescheinigen ihm ein besonders „hohes richterliches Ethos”. Beliebt, heißt es unisono, habe er sich sicher nicht gemacht. So sieht das auch der Anwalt des Klägers in dem verfahrenen Verfahren. „Höchsten Respekt” verdiene der Richter für die Entscheidung, „Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen” - auch wenn er nun wohl „(weiteren) Repressalien ausgesetzt sein wird“. Ein Anwalt, der früher einmal mit dem Fall befasst war, fand den Vorgang „nachgerade unglaublich”. Sein Kommentar: „Ich hätte derartige Umstände innerhalb eines deutschen Landgerichts nicht für möglich gehalten.” Der Rechtsstaat wisse hoffentlich, „wie er zu reagieren hat”.