Im Dezember fasste ein Richter am Landgericht einen Beschluss, der die Rolle von VW im Dieselskandal sehr kritisch beschrieb. Nun fordert der Autokonzern seine Ablösung: Er sei voreingenommen und befangen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Im Prozess um Anlegerklagen wegen der Dieselaffäre erhebt Volkswagen schwere Vorwürfe gegen einen Richter am Landgericht Stuttgart. Nach einem für die Kläger günstigen Beschluss sieht sich der Konzern öffentlich vorverurteilt und hat beantragt, den zuständigen Einzelrichter wegen Befangenheit abzulösen. Die VW-Vertreter begründen dies mit einer Fülle von schweren Verfahrensverstößen, die das Unternehmen massiv in seinen Rechten beschnitten. Der Richter weist die Vorwürfe in seiner Stellungnahme zurück. Auch die Klägeranwälte von der Kanzlei Tilp halten sie für unbegründet; offensichtlich solle ein für VW unbequemer Richter „kalt gestellt“ werden. Sie sehen sich durch weitere Dokumente bestätigt, die VW in dem Verfahren auf Anordnung des Richters offengelegt hat.

 

Der Beschluss des Richters Fabian Richter-Reuschle hatte im Dezember bundesweit Aufsehen erregt. Eigentlich ging es darin nur darum, das Oberlandesgericht Stuttgart in einem Musterverfahren über die örtliche Zuständigkeit entscheiden zu lassen. Klagende Anleger von VW und Porsche, die sich durch verspätete Informationen über die Motormanipulationen geschädigt sehen, sollten zwischen Braunschweig und Stuttgart wählen können. Der Richter nutzte dies jedoch, um die Dieselthematik bei VW auf 90 Seiten umfassend aufzuarbeiten. Insgesamt bewertete er die Begehren der Kläger in einer vorläufigen Einschätzung als schlüssig, von der Argumentation der Autobauer zeigte er sich weniger überzeugt.

Außerdem im Video: Wann begann die Dieselaffäre? Was ist seitdem passiert? Sehen Sie die zehn wichtigsten Fakten im Video:

Viele Kläger berufen sich auf den Beschluss

Aus zwei internen Notizen folgerte Richter-Reuschle, dass die VW-Spitze früher als eingeräumt über die Manipulationen informiert gewesen sei. Nicht erst im Sommer 2015, sondern schon im Mai 2014 sei Konzernchef Martin Winterkorn über auffällige Abgaswerte unterrichtet worden. Daraus habe er aber nicht die nötigen Konsequenzen gezogen. Durch den im „Bundesanzeiger“ veröffentlichten Beschluss sehen die Kläger ihre Chancen gestiegen.

Die VW-Anwälte kritisieren hingegen einen „beispiellosen Fall einer unsachgemäßen Verfahrensführung“. Der Richter lasse „die gebotene Unabhängigkeit und Neutralität vermissen“, schreiben sie in ihrem Ablehnungsgesuch. Er habe die rein formelle Frage der Gerichtszuständigkeit genutzt, um fragwürdige Vorfestlegungen zum Nachteil von Volkswagen „publikumswirksam in eine breite Öffentlichkeit zu tragen“. Damit versuche er, andere Verfahren zu konterkarieren und Richterkollegen festzulegen. Diese müssten sich nun rechtfertigen, wenn sie die Dinge anders sähen als er. Kläger gegen VW beriefen sich zudem „bereits breitflächig“ auf den Stuttgarter Beschluss.

Profilierung auf Kosten von VW vermutet

Hinter dem Vorgehen des Richters vermuten die VW-Anwälte persönliche Motive: Er wolle sich auf Kosten des Konzerns in Medien und Öffentlichkeit profilieren. Angekreidet wird ihm auch ein Beitrag in einer angesehenen Fachzeitschrift, in dem er als Experte für das Kapitalanlage-Musterverfahrensgesetz porträtiert wird. Zudem argwöhnen sie in dem 37-seitigen Antrag, dass er mit den Klägeranwälten kooperiere. Richter-Reuschle widerspricht den Vorwürfen in einer 23-seitigen, sachlich gehaltenen „dienstlichen Äußerung“. Über das Ablehnungsgesuch müssen nun seine Kammerkollegen entscheiden. Die Vorsitzende soll sich inzwischen selbst als befangen angezeigt haben, weil eine nahe Angehörige beim Bosch-Konzern arbeite.

Auf Beschluss des Richters hat VW nun zwei wichtige Vermerke aus dem Mai 2014 vorgelegt, die in Stuttgart bisher nur in Auszügen bekannt waren. Der Chef der Qualitätskontrolle hatte den Konzernchef Winterkorn darin über Emissionstests im realen Fahrbetrieb informiert, bei denen die Stickoxid-Grenzwerte massiv überschritten wurden. Beigefügt war eine vorausgehende Notiz an den Verfasser, in der es hieß, man könne den US-Behörden keine fundierte Erklärung für die „dramatisch überhöhten“ Werte geben. Es sei zu vermuten, dass sie nun nach Manipulationen durch Abschalteinrichtungen suchen würden; der Fachausdruck dafür sei „defeat device“. Laut VW hat Winterkorn das Schreiben zwar „angelesen“, nicht aber die beigefügte Notiz; Handlungsbedarf habe er daraus nicht erkennen können.

Klägeranwälte wittern Behinderung der Justiz

Für die Klägeranwälte von der Kanzlei Tilp ist es damit „nicht mehr glaubhaft“, dass Winterkorn im Mai 2014 noch keine Kenntnis von den Manipulationen gehabt haben solle. Jeder Fachkundige wisse, dass der Begriff „defeat device“ für verbotene Abschalteinrichtungen stehe. Ähnlich hatte Richter-Reuschle die Dokumente gewertet. VW betont hingegen, selbst wenn Winterkorn die Notizen gelesen haben sollte, könne man nicht folgern, dass er von Software-Manipulationen gewusst habe.

Weitere Dokumente, die Richter-Reuschle angefordert hat, gibt VW bis jetzt nicht heraus. Dabei handelt es sich um E-Mail-Korrespondenz zwischen dem früheren Umweltbeauftragten Oliver S. und dem einstigen Amerika-Chef des Konzerns, Michael Horn. S. war in den USA zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. VW habe bisher nicht bestritten, dass S. Horn im Mai 2014 über die Zahl der von Manipulationen betroffenen Fahrzeuge informiert habe, schrieb der Richter. Die Tilp-Anwälte kritisierten die „hartnäckige Verweigerungshaltung“ und erinnerten daran, VW sei auch in die USA eine „Behinderung der Justiz“ vorgeworfen worden.