Stuttgart – Die Ohren knacken, wenn der Aufzug nach oben saust. Die 150 Meter bis zur Aussichtsplattform legt der Lift in strammen 36 Sekunden zurück, das sind immerhin fünf Meter pro Sekunde. Bing, die Tür geht auf, man tritt heraus – und ist erst mal ergriffen. Ganz gleich, ob man erst letztes Jahr oder 2004 das letzte Mal hier oben war: Dieser Ausblick ist unbeschreiblich, unvergleichlich, einfach unglaublich.
Glühbirnenwechsel in 217 Metern Höhe
Selbst für einen wie Matthias Buck, der mehrmals täglich in den Genuss des Panoramablicks über Stuttgart und die Region kommt. „Ich kann mich nur nicht entscheiden, ob mir der Ausblick im Frühling oder im Herbst besser gefällt“, erzählt er lachend. Seit 1987 ist er der Techniker hier, ein Leben auf dem Turm für den Turm mit dem Turm. Wenige kennen Stuttgarts Wahrzeichen so gut wie er – vom gewaltigen Fundament unter der Erde bis zur Antennenspitze in 217 Metern Höhe. Früher ist Buck noch selber da hochgeklettert, um die gewaltigen Glühbirnen ganz oben auszuwechseln. Heute ist das kaum noch nötig. Sehr zu seinem Leidwesen: „Die Birnen halten mittlerweile einfach zu lange“, klagt er. Die Kletterei habe immer viel Spaß gemacht.
Kompassnadel für Stuttgarter
Der Fernsehturm ist mehr als nur ein Turm. Er gibt Stuttgart Identität, fungiert für Heimkommende als Leuchtfeuer, an dem man die Heimat erkennt. Der Turm auf der Waldau ist eine Kompassnadel, mit der wir uns einnorden, von weithin zu sehen, unser Anker. Es ist der erste Fernsehturm der Welt, ein geniales Exempel schwäbischer Baukunst, das danach erfolgreich in die ganze Welt exportiert und mehrfach kopiert wurde. Die Fertigung aus Stahlbeton und der sogenannte Korb an der Spitze – damals vollkommen visionär. Schwaben halt.
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Seit seiner Eröffnung am 5. Februar 1956 ist viel passiert. 1965 nahm die Queen im höchsten Café der Stadt Platz, Michael Schuhmachers Manager Willi Weber führte ein Gourmet-Restaurant oben im Turm. „Michael Schuhmacher kam dann oft zu mir zum Fußballschauen“, erinnert sich Buck. Im März 2013 dann der Stich ins Herz einer ganzen Stadt: Der Turm muss aus Brandschutzgründen dichtmachen, eine Wiedereröffnung ist ungewiss. Knapp zwei Millionen Euro und fast drei Jahre später wird Wiedereröffnung gefeiert. Puh, gerade noch mal gut gegangen.
Blind-Date mit Weitblick
Buck kann sich noch an eine Zeit erinnern, als sich Turteltäubchen auf der Aussichtsplattform zum Blind-Date verabredet haben. „Mit Rose in der Hand und Zeitung unter dem Arm, als Erkennungszeichen“, lächelt er. Die goldenen Zeiten des Prä-Online-Datings.
Fürs Fernsehen wird der Turm heute nicht mehr benutzt – und das, obwohl er damals eigens für die Verbesserung des TV-Signals im Kessel gebaut wurde. Das Radiosignal, das kommt aber immer noch vom Türmle. Zudem sendet der Fernsehturm jede Menge Kulturgeschichte in die Welt. Seit 1986 ist er in der Liste der Kulturdenkmäler, derzeit werden Bemühungen angestellt, ihm zum offiziellen UNESCO-Weltkulturerbe zu machen.
241 Tage geschlossen
Matthias Buck wäre so was von dafür. Für den Fernsehturm hat er sogar seine Heimat Cuxhaven verlassen. In einer Hamburger Tageszeitung habe er ein Stellenangebot des Fernsehturms gesehen, Arbeitskräfte waren in der Region damals rar. Seither kümmert er sich akribisch und liebevoll um die Rohre und Pumpen, um die Leitungen und Elektrik im Haus, gibt aber zwischenzeitlich gern den Touri-Guide, wenn Fragen aufkommen. Außerdem gehe es den beiden Goldfischen im Teich am Fuße des Turms derzeit nicht so gut. „Da habe ich dann natürlich auch ein Auge drauf.“
So ein Fernsehturm ist eben irgendwie auch eine Welt für sich. Eine Welt, betont er, die während der Corona-Pandemie 241 Tage nicht für die Öffentlichkeit zugänglich war. Doch seit Juli dürfen Besucher:innen wieder hoch hinaus. In der Dämmerung sehen sie dann vielleicht auch Matthias Buck verzückt am Fenster stehen und auf das langsam erstrahlende Lichtermeer hinabblicken. „Diesen Moment mag ich am liebsten“, stellt er fest. Können wir verstehen. Obwohl: Sonnenaufgang ist bestimmt auch toll. Oder Vollmond. Oder dramatische Wolken. Oder strahlend blauer Himmel. Oder ein Gewitter. Oder...