Auf den Konzertbühnen stehen ständig Rockbands, die nur noch mit Hilfe junger Gastmusiker die immer gleichen Hits durchnudeln. Menschen diesseits der 50 schlafen dabei die Füße ein. So darf das nicht weitergehen, findet unser Autor.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Jethro Tull zum Beispiel. Oder besser: „Jethro Tull’s Ian Anderson“, wie es beim Auftritt in Balingen im Juli hieß. Oder noch besser, „Jethro Tull performed by Ian Anderson“. Am 16. November spielt diese – was eigentlich? Band? – im Beethoven-Saal in Stuttgart. Der Ankündigungstext klärt auf: „Dabei handelt es sich um eine Multimedia-Produktion, die ähnlich einem Theaterstück angelegt ist. Musik und Text präsentiert die legendäre Prog-/Folkrockformation live.“

 

Diese „Legende“ von einer Band wurde 1967 von Ian Anderson gegründet. Seither waren mehr als zwei Dutzend Musiker Teil von Jethro Tull. Der Flötist und Sänger Anderson, der die Band gegründet hat, nutzt diese Marke eifrig, um inzwischen fast fünfzig Jahre alte Songs aufzuwärmen.

„I am the God of Hellfire. And I bring you ...“

Als Spätgeborener ist es schwer, für die Musik der Generation Woodstock und die ihrer Nachfolger heute noch Begeisterung zu entwickeln. Arthur Browns Hit„Fire“ beispielsweise kann niemand mehr ernst nehmen, der in den Neunzigerjahren jenem Fernsehwerbespot ausgesetzt war, der mit einem fragmenthaft entstellten Auftakt des Songs ein Boxset mit Rockhits der Jahre 1968ff. zu grotesk hohen Preisen anpries: „I am the God of Hellfire. And I bring you …“

Wessen Musik auf solche Weise verramscht wird (und es traf beileibe nicht nur Arthur Brown), dem kauft man den antiquierten Sound und die damals vielleicht spektakulär wirkenden Bühnenposen (oh Gott, sein Helm brennt!) nicht ab. Gestandene Hardrock-Fans wenden jetzt ein, dass seit Ozzy Osbourne 1982 kein Musiker mehr auf der Bühne einer Fledermaus den Kopf abgebissen hat. Mag sein, aber Oz kennen Kinder der Nullerjahre eher als alten Knacker in der MTV-Serie „The Osbournes“. So jemanden feiert man beim Konzert anno 2016 höchstens auf ironische Weise. Oder weil „Paranoid“ uns Jungen von einer seligen Zeit berichtet, in der man mit einem einzigen simplen Gitarren-Riff einen Welthit landen konnte und auch mehr als vierzig Jahre später damit noch die Hallen füllt.

Bei David Gilmour im „Business Seat“

Große Namen werden heute mehr denn je zu großem Geld gemacht, und das trifft ganz besonders auf weiße Rockstars zu, die seit den späten Sechzigern populär geworden sind. Natürlich darf sich jeder Konzerte bis zu 250 Euro (im „Business Seat“) ansehen, etwa mit dem ehemaligen Pink-Floyd-Gitarristen David Gilmour, der dieses Jahr am Schlossplatz neun eigene und 14 Pink-Floyd-Songs gespielt hat. Wesentlich günstiger wäre ein Besuch der Show „Pink Floyd Performed by Echoes“. Ein solches Coverband-Konzert wäre zudem die ehrlichste Form, sich Jugenderinnerungen hinzugeben.

Es gibt andere schlimme Beispiele. AC/DC: haben für die ersten Gigs nach dem Ausstieg ihres an Gehörproblemen leidenden Sängers Brian Johnson den Guns’n’Roses-Frontmann Axl Rose mit gebrochenem Fuß im Rollstuhl auf die Bühne geschoben. Queen: verschleißen immer neue Gastsänger, indem sie seit 25 Jahren die immer gleichen Lieder spielen, die eigentlich nur Freddy Mercury perfekt singen konnte. Simply Red: haben fast doppelt so viele ehemalige wie aktuelle Mitglieder und spielten in der Schleyerhalle den einzigen Song vom neu erschienenen Album erst als Zugabe.

Im Herbst geht’s gerade so weiter – auch in Stuttgart

Stimmt schon: die Gigs sind, wie angesichts der Eintrittspreise auch zu erwarten ist, musikalisch nur selten auf der dunklen Seite des Mondes zu verorten. Doch das ändert nichts am Grundproblem: Die Helden insbesondere der Gitarrenmusik sind entweder nicht mehr die, die sie mal waren, oder versuchen krampfhaft, mit den alten Liedern die alte Zeit weiterleben zu lassen. Oder werden sie dazu gezwungen, weil das Publikum es so will? Es kann doch kein Vergnügen sein, zum zweitausendsten Mal „Smoke on the Water“, „Summer of 69“ oder „Highway to Hell“ zu spielen.

Wobei – für die ganze Retromanie stehen ja oft genug höchstens ein bis zwei Gründungsmitglieder auf der Bühne, der Rest sind Gastmusiker. Das lässt sich im Herbst auch in Stuttgart beobachten, wo die Konzertveranstalter sich an den rocklastigen Publikumsgeschmack angepasst haben: The Who (oder was davon übrig ist) spielen im September in der Schleyerhalle. Das Jethro-Tull-Theater gastiert Mitte November in der Liederhalle. Zehn Tage später kommen Status Quo (ohne ihren erkrankten Gitarristen Rick Parfitt) in die Porsche Arena. Es ist ihre angeblich „allerletzte elektrisch verstärkte Tournee“. Der Ankündigungstext liest sich wie eine Persiflage. Er weist darauf hin, dass die Band vor 30 Jahren schon ihren Abschied angekündigt habe, „aber dies ist jetzt eine endgültige Entscheidung.“ Es ist Geschmackssache, ob man die nun schon sechs Jahre dauernde Abschiedstournee der Scorpions nicht noch ein bisschen absurder findet.

Erfolgserlebnisse für Gitarrenanfänger

Im Vorprogramm von Status Quo ist die Band Uriah Heep angekündigt. Von der Urbesetzung ist nur der Gitarrist Mick Box übrig. Ihr größter Hit „Lady in Black“ besteht aus zwei Akkorden und findet sich in jedem Buch für Gitarrenschüler in einem der ersten Kapitel. Was Anfängergitarristen ein frühes Erfolgserlebnis beschert und vielleicht der Soundtrack für den ersten Stehblues von heute 60-Jährigen war, lässt Nachgeborenen die Füße einschlafen. Nein, ihr seid musikalisch nicht „My Generation“ und uns Junge spricht diese Musik nicht an. Soll sie auch gar nicht.

Die Pop- und Rockmusik der erwähnten Bands und vieler anderer ist heute etwas ganz anderes als das, was sie einmal war – und wofür sie einst stand. Als sie in den 60er- und 70er-Jahren angetreten sind, waren die Musiker und ihre Fans die Langhaarigen, Halbstarken, Revoluzzer. Das war Musik für die Jungen, Provozieren und Auflehnen gegen elterliche Autorität war ob des Miefs von tausend Jahren relativ einfach und ein fantastischer emanzipatorischer Akt. Heute werden die musikalischen Heldentaten von damals erst als remasterte CD oder zuletzt häufiger als opulent ausgestattetes LP-Set für den neu erworbenen Plattenspieler gekauft, Vinyl ist ja wieder modern. Aktuell sind Archivveröffentlichungen von den Beatles, Pink Floyd und Led Zeppelin geplant.

Boney M. am Möbel-Hofmeister-Parkplatz

Die Bands und ihre Fans sind gemeinsam alt geworden, auch wohlhabender, gemütlicher. Das einzig Wilde ist der Sound der Jugend, und weil jeder eben so alt ist wie er sich fühlt, werden die immer gleichen Hits wieder und wieder aufgeführt – in den Konzerthallen, am Schlossplatz, bei der „Night of the Proms“ oder wenn die Reste von Boney M. auf dem Möbel-Hofmeister-Parkplatz in Sindelfingen auftreten; genauso aber in den Clubs, in denen all die Metal-, Hardcore- und Punklegenden gastieren – gerne mit jungen Musiksöldnern als Ersatz für alte, kranke oder tote Gründungsmitglieder.

Der Musikgeschmack ist bei den meisten Menschen um das dreißigste Lebensjahr fertig ausgeprägt. Das wusste man schon länger, zuletzt kam eine Studie mit Daten des Streamingdiensts Spotify zu diesem Ergebnis. Wer heute Mitte sechzig ist, wurde ungefähr in den späten 60er-Jahren musiksozialisiert und findet wahrscheinlich bis heute die Musik aus dieser Zeit am besten. Die Babyboomer sowie die Jahrgänge vor und nach ihnen sind eine besonders große, zahlungskräftige Gruppe. Sie haben Geld für teure Tickets in großen Hallen, deshalb werden besonders viele Bands aus ihrer Jugend auf die Bühnen gestellt und die Konzerte entsprechend beworben.

Über die letzten Jahre hat sich deshalb ein Missverhältnis aufgetan: nicht die besten, innovativsten, gesellschaftlich relevantesten Künstler werden mit hohem Aufwand auf große Tourneen geschickt – sondern diejenigen, die der darbenden Musik- und Konzertindustrie verlässliche Absatzzahlen bescheren. Die Babyboomer sind mit Rockmusik groß geworden, also machen die Rockstars eben immer weiter.

Ein paar Gegenvorschläge

Bitte nicht falsch verstehen: Die heutigen Altrocker haben Großes geleistet. Damals. Jetzt sollten die Rock-Gerontokraten Platz machen für die Jungen und Wilden von heute – auf den Bühnen, in den Werbeetats und in den ob der ganzen Wiederveröffentlichungen überlasteten Vinyl-Presswerken. Wie sollen sonst die Idole von morgen nachwachsen?

Das geht auch an die Industrie: Statt ihre geschrumpften Etats in immer noch peinlichere Tourneen und Boxsets zu stecken, sollte sie lieber das Neue, Aufregende, Provokative pushen. Wenn das dann von Bands in ihrem zweiten kreativen Frühling kommt, von Einstürzende Neubauten oder Nick Cave etwa, wäre das ja trotzdem in Ordnung. Noch ein bisschen besser wäre es, wenn so frische und relevante Acts wie die britischen Sleaford Mods, die Queer-Musikerin Peaches, die österreichische Popsensation Bilderbuch, der Mannheimer Hymnenschreiber Get Well Soon oder junge Erneuerer wie irischen The Strypes, die Isländer Fufanu oder Stuttgarts Szenehelden Die Nerven einer breiten Masse vorgestellt würden – anstatt zum x-ten Mal Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ als ewigen Spitzenreiter der SWR-1-Hörerhitparade durchzunudeln oder noch das letzte Archivtape zu Geld zu machen.

Leider haben sich längst nicht alle Musiktrends der letzten fünfzig Jahre in ihrem Hedonismus selbst pulverisiert wie etwa Disco; für Nachschub in Sachen alternde Musikstars ist gesorgt. Zudem scheint es sich bei der Retromanie um eine anthropologische Grundkonstante zu handeln – sie hat auch bei jüngeren Genres längst eingesetzt, man denke etwa an die seligen HipHop-Fans bei Max Herres Unplugged-Tour oder Revivals wie dem der Beginner.

Offenbar geht nichts über die „1ste Liebe“ (so ein Herre-Klassiker). Während aber im HipHop und in der elektronischen Musik auch noch viel Neues passiert, konnte man dem altehrwürdigen Genre Rockmusik seit Jahren bei der Fossilierung zusehen. Rock ist, frei nach Zappa, nicht tot. Aber er riecht ziemlich komisch. Dagegen hilft nichts besser als etwas mehr frische Luft auf den Bühnen und im Plattenregal.