Zu viele Vorschriften Wie im Land Bürokratie reduziert werden soll

Winfried Kretschmann (Grüne) hat sich das Thema Bürokratieabbau für seine letzte Amtszeit als wichtige Priorität vorgenommen. Foto: dpa/Marijan Murat

Das Land hat den Bürokratieabbau ganz oben auf die Agenda gesetzt. Eine Sisyphusarbeit. Wie ändert man Strukturen und Prozesse, die über Jahrzehnte gewachsen sind, wenn gleichzeitig viel neu geregelt werden muss?

Entscheider/Institutionen: Annika Grah (ang)

Es war ein Hilferuf, wie er die Landesregierung nicht jeden Tag erreicht. Vergangenen Oktober schrieben die Vertreter von Kommunen, Landkreisen und der Wirtschaft im Land einen Brandbrief an den Ministerpräsidenten: „Wir brauchen einen Wandel hin zu einem modernen Zukunftsstaat mit verlässlichen und umsetzbaren Zusagen“, hieß es darin. Die Rede war von „lähmender Behäbigkeit“ und einem „empfundenen Stillstand“.

 

Immer neue Regeln, lange Genehmigungsverfahren, umfangreiche Dokumentationspflichten – Klagen über ein Zuviel an Bürokratie gibt es seit Jahrzehnten. Doch die Dringlichkeit gerade bei vielen kleinen Firmen hat zugenommen. „In den vergangenen ein bis zwei Jahren wurde das Problem ‚Bürokratie‘ in Umfragen deutlich nach oben gespült“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Baden-Württembergischen Handwerkstags, Peter Haas.

12,5 Stunden, das ergab eine 2021 veröffentlichte Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG im Auftrag des baden-württembergischen Normenkontrollrats, ist ein Bäckereibetrieb im Schnitt pro Woche mit bürokratischen Aufgaben wie Dokumentationspflichten, Meldepflichten an die Statistikämter oder der Übermittlung von Daten befasst. „Die Bürokratielast hält immer mehr Handwerker davon ab, sich selbstständig zu machen oder Betriebe zu übernehmen“, sagt Haas.

„Wüstes Brombeergestrüpp“

Nur einen Teil der Regeln hat wirklich das Land zu verantworten, das meiste stammt aus der Feder des Bundes. Trotzdem setzt Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) das Thema Bürokratieabbau inzwischen ganz oben auf seine Agenda. „Das Bild vom dicken Brett, das man da bohren muss, beschreibt diesen Weg nur sehr unzureichend. Das ist eher ein wüstes Brombeergestrüpp, durch das man da durch muss“, sagte er im Frühjahr. Mitte Juli schmiedete das Land eine „Entlastungsallianz“ mit den anklagenden Verbänden, um Vorschläge zu erarbeiten.

Vorzeigebeispiel der Landesregierung ist die Taskforce Erneuerbare Energien, deren Aufgabe es seit 2021 war, bürokratische Hürden beim Windkraftausbau zu beseitigen. Widerspruchsverfahren wurden vereinfacht, Verfahrensleitfaden zur Straffung der Genehmigungsverfahren erstellt und Stabstellen in Regierungspräsidien eingerichtet, die die Behörden bei der Umsetzung der Genehmigungen unterstützen sollen. Beim Branchenverband Windenergie spürt man eine Veränderung, doch nun komme es eben auch auf die Umsetzung in Kommunen und Landratsämtern an, heißt es. Da gebe es nach wie vor große Unterschiede.

Einer, der auf eigene Faust versucht, Prozesse effizienter zu gestalten, ist der Waiblinger Landrat Richard Sigel. „Entbürokratisierung gelingt nur, wenn wir als Verwaltung den Mut haben trotz der vielen Regeln, Verordnungen und Gesetze nicht alles noch komplizierter zu machen“, sagt er. Im Rems-Murr-Kreis hat er einen kreisweiten Handwerker-Parkausweis eingeführt, damit Betriebe nicht für jede Kommune im Kreis einen Ausweis beantragen müssen – und das Innenministerium davon lediglich in Kenntnis gesetzt. „Wir brauchen in der Verwaltung einen neuen Geist. Die Angst, Fehler zu machen und Althergebrachtes zu hinterfragen, hemmt eine moderne Verwaltung“, sagt Sigel.

Doch immer, warnt Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags, funktioniert das nicht. „Wir sind in erheblichem Maße überreguliert“, klagt er. „Die Gemeinden und Städte können nicht einfach frei entscheiden und Zukunft gestalten. Um dies zu ermöglichen, müssen Gesetze so angepasst werden, dass auch mit dem gesunden Menschenverstand Entscheidungen vor Ort getroffen werden können.“ Das Waldgesetz sei ein Beispiel, wie es funktionieren könne. „Es befreit den Waldbesitzer von der Haftung und weist stattdessen auf waldtypische Gefahren hin, die jeder bei seinem Besuch beachten muss.“ Auch Roman Glaser, Präsident des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands, hält mehr Selbstverantwortung für Bürger, Wirtschaft und Kommunen für den richtigen Weg.

Abwägung von Kosten und Nutzen

Doch das ist laut Volker Wittberg von der Fachhochschule des Mittelstands, der sich seit Jahrzehnten mit der Frage des Bürokratieabbaus beschäftigt, eine Abwägungsfrage. „Bürokratieabbau enthält immer auch die politische Frage nach dem höheren Gut.“ Ein solches Gut könne Nachhaltigkeit sein. „In den USA hat sich dafür die Kosten-Nutzen-Analyse etabliert. Die Frage ist aber, was ist der Nutzen.“ Und den hätten verbindliche Regeln eben auch. Den großen Wurf, sagt Wittberg, könne es auf Landesebene überhaupt nicht geben, wenn es um Bürokratieabbau gehe. „Dort muss es um Vollzugsvereinfachung gehen. Beispielsweise beim Melden von Daten.“

Ähnlich sieht es der Jurist Arne Pautsch von der Verwaltungshochschule in Ludwigsburg. Ein denkbarer Hebel, um Behörden mehr Freiräume zu geben, wäre aus seiner Sicht, das Dickicht an Verwaltungsvorschriften etwas zu lichten. „Weniger Detailvorgaben, wie Gesetze auszuführen sind, könnte einen Beitrag leisten.“ Den Ansatz der Entlastungsallianz hält Pautsch für richtig. Das deute darauf hin, dass man „weniger übereinander als miteinander über das Thema Bürokratieabbau spricht“.

Genau dafür will man in Baden-Württemberg jetzt Instrumente einführen. Mit der Weiterentwicklung des Normenkontrollrats sollen künftig dank Praxischecks neue Regelungen möglichst pragmatisch und zielorientiert gestaltet werden, erklärt ein Regierungssprecher. Vor den Beteiligten liegt eine komplexe Detailarbeit: „Wir werden uns ganz genau anschauen, welche Regeln es wirklich braucht und wie die konkrete Umsetzung von Aufgaben effizienter werden kann“, kündigte Kretschmann zum Start der Entlastungsallianz an. Handwerkstag-Hauptgeschäftsführer Haas schreckt das nicht ab: „Wir müssen an vielen Details arbeiten, und zwar mit Praktikern am Tisch. Wir haben aber die Geduld, da peu à peu über Jahre dran mitzuwirken“, sagt er.

Neuaufstellung des Normenkontrollrats

Kritik
 2018 wurde der Normenkontrollrat im Land zum Abbau von Bürokratie eingerichtet. Er konzentrierte sich wie sein bundesweites Pendant zunächst auf den sogenannten Erfüllungsaufwand – also Kosten, die durch Gesetze entstehen. Das Gremium machte aber auch konkrete Vorschläge zum Bürokratieabbau, etwa beim Brandschutz oder zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Der Landesregierung ging das nicht weit genug. Sie kündigte Ende 2022 eine Neubesetzung an.

Neustart
 Künftig soll der Normenkontrollrat praxisnäher arbeiten und stärker in Gesetzgebungsverfahren eingebunden werden. Vor der Sommerpause wurde es aber nichts mit der Neuaufstellung. Bisher ist nur bekannt, dass der frühere Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne) das Gremium leiten soll.

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