Drei Gleise bleiben nach der Zug-Entgleisung bis auf Weiteres gesperrt. Viele Fernzüge beginnen ihre Fahrt daher außerhalb des Hauptbahnhofs. Auch der Nahverkehr ist betroffen.

Stuttgart - Bei Schrittgeschwindigkeit ist nichts geschehen. Doch als der Zugverband bei seiner dritten von vier geplanten Fahrten mit 33 Stundenkilometern über die Weiche 227 fuhr, entgleiste der IC am Montagmorgen vor den Augen der Experten des Eisenbahn-Bundesamtes (Eba). Die letzte dieser Versuchsfahrten mit Tempo 40, der maximal erlaubten Geschwindigkeit, konnte daraufhin nicht mehr stattfinden. Details wie diese gehen aus Protokollen hervor, die der Stuttgarter Zeitung vorliegen. Bei der höheren Geschwindigkeit und der damit einhergehenden Fahrdynamik in den engen Bögen kam es zu der „Überpufferung“, die Puffer der Waggons verkeilten sich (die StZ berichtete). Wie sich nun herausstellt, könnte dabei auch der Speisewagen eine Rolle gespielt haben. Der ist mit 27,5 Meter Länge um 1,1 Meter länger als die übrigen Wagen und schwenkt in engen Radien weiter aus.

 

Vor diesem dritten Unfall im Stuttgarter Hauptbahnhof lag die Ankunftspünktlichkeit nach StZ-Informationen vergangenen Freitag nur noch bei 64,91 Prozent. Nun bleibt der Bahnverkehr weiter erheblich eingeschränkt. Bis Ende der Woche bleiben die wichtigen Fernverkehrsgleise 8, 9 und 10 gesperrt, so ein Bahnsprecher. Und auf Gleis 11 können nur Züge aus Bad Cannstatt einfahren, nicht die aus Feuerbach.

Bis Untersuchungs-Abschluss können Wochen vergehen

Viele Fernzüge beginnen ihre Fahrt daher außerhalb des Hauptbahnhofs. Auch der Nahverkehr ist betroffen. Regionalexpresszüge aus Heidelberg, Karlsruhe und Heilbronn enden meist in Bietigheim-Bissingen oder Kornwestheim. Fahrgäste müssen dort auf bisher schon volle S-Bahn umsteigen. Für die kommende Woche wird ein neues Betriebskonzept erarbeitet, um den länger andauernden Wegfall von drei Gleisen auszugleichen. Die Bahn rechnet nämlich nicht damit, dass die Gleise 8, 9 und 10 befahren werden können, bevor die Untersuchung der Unfallursache abgeschlossen sein wird. Bis dahin können Wochen vergehen, mit vier rechnet man bei der Bahn. „Der Regelbetrieb ist auf dem betroffenen Gleisabschnitt weiterhin so lange untersagt, bis die Bahn die entsprechenden Sicherheitsnachweise erbringen kann“, sagte eine Sprecherin der Aufsichtsbehörde Eba.

Mit der Suche nach der Unfallursache sind nicht nur die Bahnexperten befasst, auch die Staatsanwaltschaft ist auf den Plan gerufen. Nach den ersten beiden Unfällen im Juli und vor zwei Wochen hatte die Behörde Ermittlungen wegen gefährlicher Eingriffe in den Bahnverkehr aufgenommen. Auch jetzt seien Vorermittlungen aufgenommen worden, „auch wenn es nicht genau der gleiche Sachverhalt ist“, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Zum Tatbestand des gefährlichen Eingriffes gehöre, dass Menschen gefährdet werden und ein hoher Sachschaden entsteht. Die Testfahrt werde dennoch untersucht, auch um Erkenntnisse über die anderen Unfälle zu gewinnen.

„Alle Pläne wurden genehmigt und freigegeben“

Am Prellbock des Gleises 1 wird anschaulich, was sich im Vorfeld des Stuttgarter Kopfbahnhofs getan hat. Dieser Prellbock wurde als erster – von letztlich allen 16 – um 120 Meter vorverlegt und der Bahnsteig entsprechend verlängert. Der Grund ist die große Baugrube von Stuttgart 21, die sich zwischen diesen Bahngleisen und dem alten Empfangsgebäude auftun wird. Oberirdisch wird das so genannte Gleisvorfeld bis zur Inbetriebnahme des Neubauprojekts nahezu halbiert. Gleise, Weichen und Signalanlagen drängen sich mit entsprechenden engeren Radien auf knappem Raum bis zu den Rampen, über die Züge in verschiedene Richtungen fahren. Für die weit in Richtung Bad Cannstatt hinaus gebauten Bahnsteige ist teilweise kein Wetterschutz vorgesehen. Entsprechend der Verlegung verlängert sich der Fußweg der Reisenden in das Empfangsgebäude oder zu den S-Bahn-Gleisen.

Begonnen wurde mit dem Umbau dieses Gleisvorfeldes bereits kurz nach dem Grundsatzbeschluss zum Bau von Stuttgart 21 im Februar 2010. „Alle Pläne wurden genehmigt und freigegeben“, sagt nun Eckart Fricke, Konzernbevollmächtigter der Deutsche Bahn AG für das Land Baden-Württemberg. Ein externer Bauvorlageberechtigter hat diese Pläne abgenommen.

Die Gleise 8 und 9 hätten nicht mehr angefahren werden dürfen

Fachleute des Stuttgarter Verkehrsministeriums gingen davon aus, dass die beteiligten Teilsysteme zwar grenzwertig sind, aber alle im „grünen Bereich“ liegen. Doch nun ist derselbe IC zweimal im Bereich der Weiche 227 entgleist, der jüngste Fall betrifft einen Testzug. Dieser Intercity Stuttgart-Hamburg mit elf Waggons gehört zu den längsten Zügen, die den Hauptbahnhof anfahren. Der Zug entgleiste jeweils, als er aus dem Bahnhof geschoben wurde.

Das Eisenbahn-Bundesamt (Eba) hatte nach dem zweiten Unglück am 29. September reagiert. Die Bahn sprach zwar noch am Montag davon, dass alle Gleise wieder genutzt werden könnten, erwähnte aber auch Einschränkungen. Bis nach einem entsprechenden Sicherheitsnachweis hätten Züge vom Gleis 10 aus nur gezogen, nicht mehr geschoben werden dürfen. Die Gleise 8 und 9 hätten von Süden nicht mehr angefahren werden dürfen. Manche Fahrgäste erinnern sich auch an das S-Bahn-Chaos 2010. Als Ursache wurden Umbauarbeiten im Gleisvorfeld und an der S-Bahn-Tunnelrampe des Hauptbahnhofs genannt.

Als Grund für den aktuellen Unfall halten Fachleute in einer ersten Einschätzung eine Kombination der kleinen Radien mit einem aus Zeitmangel mangelhaft präparierten Oberbau im Bahnhof für möglich. Dabei geht es um das Gleisbett und dem darauf montierten Gleis. Untersucht wird auch, ob die Züge nach der Aufhebung mancher Langsamfahrstelle schneller fuhren, um frühere Fahrzeitvorgaben einzuhalten. „Offensichtlich ist die Entwurfsgeschwindigkeit nicht fahrbar“, wird in der Eisenbahnersprache gesagt.

Eba-Chef Gerald Hörster hat am 8. Oktober an den Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) geschrieben, dass die Eisenbahnaufsicht allenfalls die Symptome der Entgleisungen behandeln könne. „Weitaus nachhaltiger ist es aber, den Ursachen zu begegnen“. In jedem Fall gelte es, formulierte Hörster, ein weiteres, gleichartiges Ereignis zu vermeiden. Das hat der Eba-Chef auch gegenüber Bahnvorstand Volker Kefer zum Ausdruck gebracht. Immerhin geschah der letzte Vorfall nur bei einer Testfahrt, ohne Reisende im Waggon.