Das Zugunglück bei Santiago de Compostela, bei dem mindestens 79 Menschen starben, erschüttert Spanien. Die Ursache ist völlig offen. Vieles spricht dafür, dass menschliches und technisches Versagen aufeinandertrafen.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Santiago de Compostela - Unter all den Bildern des Grauens ist dieses das absurdeste: Ein moderner Eisenbahnwaggon, auf den ersten Blick nur wenig beschädigt, steht auf einer Sandpiste parallel zu den Gleisen, als sei er dort in aller Ruhe abgestellt worden. Doch es müssen gewaltige Kräfte gewesen sein, die den Wagen hierhin katapultiert haben: Eine fünf Meter hohe Betonmauer trennt den Schienenweg von der Sandpiste. Sieben weitere Waggons haben sich vor der Mauer ineinander verkeilt. Sie liegen auf den Gleisen wie kaputtes Spielzeug. Feuerwehrleute, Polizisten, Sanitäter, hilfsbereite Anwohner und überlebende Passagiere laufen zwischen den rauchenden Resten des Zuges herum. Trümmer und Gepäck liegen über das ganze Gelände verstreut. Eine Reporterin fragt eine Zeugin, was sie am meisten geschockt habe. „Die Leichen“, sagt sie, „die Leichen.“

 

Mindestens 79 Menschen sind am Mittwoch ums Leben gekommen, als der Schnellzug aus Madrid, in dem sie saßen, wenige Kilometer vor der Einfahrt in den Bahnhof von Santiago de Compostela in der nordwestspanischen Region Galicien entgleiste. Es ist das schwerste Zugunglück in Spanien seit gut 40 Jahren und der erste Unfall mit Toten auf dem spanischen Hochgeschwindigkeitsnetz, dessen erste Linie vor 21 Jahren in Betrieb ging. 218 Passagiere und vier Zugbegleiter waren an Bord. Fast niemand kam unbeschadet davon. Unter den 130 Verletzten befanden sich am Donnerstag 20 in kritischem Zustand. Die Zahl der Toten wird wahrscheinlich steigen.

Alles deutet darauf hin, dass der Zug viel zu schnell fuhr

Alles deutet nach den ersten Informationen darauf hin, dass der Zug entgleiste, weil er viel zu schnell fuhr. Nach rund 80 Kilometern nahezu gerader Strecke, auf der er mit Tempo 250 unterwegs ist, muss der Schnellzug vom Typ Alvia 730 für die Einfahrt nach Santiago auf Tempo 80 abbremsen. Etwa vier Kilometer vor dem Bahnhof macht die Strecke, die hier unter einer Autobahnbrücke entlangführt, eine starke Linkskurve. Doch offenbar wurde der Zug nicht genügend abgebremst. Nach einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Efe erklärte der überlebende Lokführer, dass er mit 190 Stundenkilometern in die Kurve eingefahren sei. Warum, ist bis jetzt völlig offen. Vieles spricht dafür, dass menschliches und technisches Versagen zusammenkamen.

Die Strecke ist mit einem automatischen Bremssystem – mit der spanischen Abkürzung ASFA – ausgerüstet, das den Zug an dieser Stelle zumindest nicht genügend abbremste. Ob der Lokführer selbst zu bremsen versuchte, steht noch nicht fest. Mehrere spanische Zeitungen zitierten aus einem Gespräch zwischen dem Lokführer und dem Bahnhof in Santiago direkt nach dem Unglück, als das Ausmaß der Katastrophe noch völlig im Dunkeln lag. „Somos humanos“, wiederholte der Lokführer mehrfach: Wir sind auch nur Menschen. Um dann hinzuzufügen: „Ich hoffe, dass es keine Toten gegeben hat, denn sie werden mir auf dem Gewissen liegen.“

Keine Indizien deuten auf ein Attentat hin

Ein Richter in Santiago nahm am Donnerstag die Ermittlungen zur Unglücksursache auf. Unter anderem steht ihm dafür der Fahrtenschreiber zur Verfügung. Der Vertreter der spanischen Regierung in Galicien, Samuel Juárez, sagte, es gebe „keine Indizien, die auf ein Attentat hindeuten“. Die Möglichkeit, dass hinter dem Unglück ein Anschlag stecken könnte, ist für die Spanier nicht abwegig: Im März 2004 verübte eine Gruppe islamistischer Terroristen ein Bombenattentat auf vier Madrider Vorortzüge; damals kamen 191 Menschen ums Leben. Die 95 000-Einwohner-Stadt Santiago de Compostela ist die Hauptstadt Galiciens und als Pilgerziel auf dem Jakobsweg weltbekannt. Etliche der Reisenden in dem Unglückszug waren auf dem Weg nach Santiago, um dort den Jakobustag, nach katholischem Heiligenkalender der 25. Juli, zu begehen. Jetzt wurden die Feierlichkeiten in der Stadt abgesagt. Die Regionalregierung rief sieben offizielle Trauertage aus.

Die spanischen Schnellzüge gelten als zuverlässig

Spaniens konservativer Ministerpräsident Mariano Rajoy, selbst gebürtig aus Santiago, reiste an den Ort der Katastrophe. Sichtlich bewegt versprach er, dass die Unfallursache aufgeklärt werde. Der Zugverkehr werde „schnellstmöglich zur Normalität“ zurückkehren. Spaniens Schnellbahnnetz ist mit rund 3000 Streckenkilometern, nach dem chinesischen, das zweitlängste der Welt. Die sogenannten AVEs (Alta Velocidad Española) sind bequem und pünktlich, wenn auch vergleichsweise teuer. Schwerwiegende Probleme gab es bis zu diesem fatalen Mittwochabend nicht.

Die spanische Eisenbahn war lange für ihre veralteten Züge und langsamen Verbindungen bekannt. Das änderte sich 1992, als die erste Schnellbahnverbindung zwischen Madrid und Sevilla in Betrieb ging, wo in jenem Jahr die Weltausstellung stattfand. Der Erfolg der Strecke veranlasste die Politiker zu einem ehrgeizigen Investitionsprogramm mit dem Ziel, Stück für Stück alle 50 Provinzhauptstädte zu verbinden. Das Projekt „AVE für alle“ war jedoch mit Beginn der Wirtschaftskrise vor gut fünf Jahren in die Kritik geraten. Spanien ist mit einer Ausdehnung von einer halben Million Quadratkilometern um etwa ein Drittel größer als Deutschland, hat aber nur etwa halb so viele Einwohner. Die Züge legen hier lange Strecken zurück, sind aber im Vergleich zum deutschen ICE gering ausgelastet. In Zeiten der Krise scheint sich Spanien mit dem Schnellbahnnetz einen übertriebenen Luxus zu gönnen. Das schwere Zugunglück von Santiago wird den Ruf des AVE nicht verbessern.